Israel: Rechtsextreme stürmen Militärgelände nach Ermittlungen gegen Soldaten wegen Grausamkeit gegen palästinensische Gefangene

Siedler, rechtsextreme Aktivisten und Abgeordnete drangen am Montag, den 29. Juli, in das berüchtigte Haftzentrum Sde Teiman in der israelischen Negev-Wüste ein. Sie protestierten gegen die Festnahme und Inhaftierung mehrerer Soldaten, die beschuldigt werden, einen palästinensischen Gefangenen sexuell misshandelt zu haben.

Ein noch größerer Mob randalierte vor dem Stützpunkt Beit Lid, dem Sitz der israelischen Militärgerichtsbarkeit und der Militärpolizei. Sie stürmten das Gelände und versuchten, die Gerichtsverhandlung gegen die neun Soldaten zu verhindern. Anwesende Medienvertreter wurden von den Randalierern angegriffen.

Israelische Soldaten protestieren am 29. Juli 2024 am Tor der Militärbasis Sde Teiman dagegen, dass Soldaten wegen der Misshandlung von Häftlingen verhört werden [AP Photo/Tsafrir Abayov]

Die Ausschreitungen haben einen politischen Sturm ausgelöst, der deutlich macht, dass die Faschisten es ablehnen, Israels Verbrechen gegen die Palästinenser auch nur andeutungsweise einzuschränken.

Der palästinensische Gefangene war von den Reservistensoldaten so brutal vergewaltigt worden, dass er zur Behandlung in ein Krankenhaus in Beerscheba gebracht werden musste. Nach Angaben des Nachrichtenmagazins Arab48  kann er wegen einer „schweren Wunde im Bereich des Rektums“ nicht mehr gehen.

Das Haftzentrum Sde Teiman wurde von der Knesset unmittelbar nach Ausbruch des Gaza-Krieges als Gefängnis für „illegale Kombattanten“ eingerichtet, um Hamas-Mitglieder, einschließlich derer, die an dem Angriff vom 7. Oktober beteiligt waren, festzusetzen. Aufgrund der brutalen Behandlung von Hunderten von Palästinensern ist das Gefängnis als Israels Guantanamo bekannt geworden. In einem Bericht des UN-Hilfswerks, der im vergangenen März in der New York Times veröffentlicht wurde, sind Aussagen von Gefangenen zitiert. Demnach werden sie in Sde Teiman geschlagen, beraubt, entkleidet und sexuell missbraucht, und ihnen wird der Zugang zu Ärzten und Anwälten verwehrt.

Nach Angaben von Haaretz sind etwa 30 Palästinenser in Sde Teiman ums Leben gekommen. Im vergangenen Monat ordnete der israelische Generalstaatsanwalt Gali Baharav-Miara die Schließung von Sde Teiman an, nachdem israelische Menschenrechtsorganisationen beim Obersten Gerichtshof eine Petition eingereicht und internationale Berichte über vielfache Misshandlungen der Häftlinge veröffentlicht hatten. Der Oberste Gerichtshof hat inzwischen Premierminister Benjamin Netanjahu beschuldigt, die Schließung hinauszuzögern.

Die Festnahme der neun Soldaten wegen sexuellen Missbrauchs erfolgte, wie der britische Daily Telegraph berichtete, nachdem die Hamas dem israelischen Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, eine Warnung hatte zukommen lassen. Ben-Gvir ist auch Vorsitzender der Partei Otzma Jehudit (Jüdische Stärke). Die Hamas hatte ihn gewarnt, dass den im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Geiseln etwas zustoßen werde, wenn die Misshandlung palästinensischer Gefangener nicht aufhöre. Sie hatten ein Video vorgelegt, auf dem die Misshandlung der Gefangenen zu sehen ist. Die Festnahmen zeigen, wie sehr die Justiz- und Militärbehörden befürchteten, dass eine solche Enthüllung die Unterstützung der imperialistischen Mächte für Israels völkermörderischen Krieg gegen die Palästinenser weiter gefährden könnte.

Berichten zufolge leisteten die Soldaten Widerstand gegen ihre Festnahme und publizierten Videos darüber in den sozialen Medien. Sie verbarrikadierten sich in der Gefängniseinrichtung und setzten Pfefferspray ein, ehe sie schließlich in Gewahrsam genommen wurden. Andere Soldaten ihrer Einheit legten Berichten zufolge die Waffen nieder und weigerten sich, ihren Dienst fortzusetzen.

Rechtsextreme Israelis, empört über die Verhaftungen, riefen in ganz Israel zu Protesten zur Unterstützung der Soldaten auf. Dutzende von Menschen, darunter Mitglieder der Knesset und der Kulturminister Amichai Eliyahu, versammelten sich vor Sde Teiman, brachen die Tore auf und stürmten die Einrichtung, um die Inhaftierung der Soldaten zu verhindern. Sie zogen erst ab, als sie feststellten, dass die Soldaten bereits nach Beit Lid verlegt worden waren.

Ein Soldat des Militärstützpunkts berichtete: „Eine Polizeieinheit, die in der Nähe war, hat den Stützpunkt erst etwa eine Stunde nach seiner Erstürmung betreten, als die Demonstranten ihn schon wieder verlassen hatten. (…) Es gab keine Wachmannschaft, die sich ihnen in den Weg gestellt hätte, und kein Offizier war anwesend, um eine Aktion zu leiten.“

Als bekannt wurde, dass die Soldaten zum Verhör auf den Stützpunkt Beit Lid verlegt worden waren, versammelten sich 1.200 Randalierer vor diesem Stützpunkt und beschuldigten die dort dienenden Soldaten des „Verrats“. Unter den Demonstranten befanden sich bewaffnete und maskierte Soldaten, und einige trugen das Logo der Force 100, derselben Einheit, die zu Beginn des Krieges wiedergegründet worden war, um die Gaza-Gefangenen in Sde Teiman zu bewachen. Dutzende von ihnen drangen in den Stützpunkt ein, ehe die Polizei sie wieder auseinandertrieb, jedoch keinen von ihnen festnahm.

Der Stabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), Herzl Halevy, hat die Erstürmung mit den Worten verurteilt, die Vorfälle „grenzen an Anarchie“ und schadeten der Armee, der Sicherheit Israels und den Kriegsanstrengungen. Drei Bataillone, die nach Gaza geschickt werden sollten, wurden Berichten zufolge in höchste Alarmbereitschaft versetzt, um den Stützpunkt Beit Lid zu verstärken, falls die Unruhen anhalten sollten. Als Halevy in Beit Lid eintraf, wurde er mit „Rücktritt!“-Rufen empfangen.

Am Dienstag kritisierten ranghohe israelische Offiziere das Verhalten der Polizei bei der Erstürmung der Militärstützpunkte Sde Teiman und Beit Lid. Sie wiesen darauf hin, dass der amtierende Generalinspekteur der Polizei, Avshalom Peled, nicht zum Stützpunkt Beit Lid gekommen sei und auch keine Grenzpolizei geschickt habe. Ein ranghoher Polizeibeamter sagte: „Die Polizeiführung und die Brigade haben die Augen vor den Ereignissen in Beit Lid verschlossen. Es mangelte nicht an Kräften, sondern eher an klaren Anweisungen und Befehlen.“

Ein anderer Beamter sagte, mehrere der rechtsextremen Elemente, die Sde Teiman stürmten, seien zwar während der Razzia identifiziert worden und der Polizei auch von früheren Demonstrationen bekannt. Die Polizei habe jedoch nicht die Absicht, einen von ihnen festzunehmen.

Faschistische Mitglieder von Netanjahus Regierungskoalition waren an der Anstiftung zu den Unruhen aktiv beteiligt, und einige von ihnen nahmen sogar an der Erstürmung teil. Ben-Gvir, dessen Ministerium die Polizei und die Gefängnisse kontrolliert, erklärte: „Das Spektakel, dass Militärpolizisten kommen, um unsere besten Helden in Sde Teiman zu verhaften, ist nichts weniger als beschämend.“ Er fügte hinzu: „Ich empfehle dem Verteidigungsminister, dem Generalstabschef und den Armeebehörden, die Kämpfer zu unterstützen und von den  Gefängniswärtern zu lernen. Die Sommerparty und die Geduld mit den Terroristen sind vorbei. Die Kämpfer müssen volle Rückendeckung bekommen.“

Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich forderten die Generalstaatsanwältin des Heeres auf, „ihre Hände von den Reservisten zu nehmen“.

Justizminister Yariv Levin von Netanjahus Likud-Partei sagte, er sei „schockiert, die grausamen Bilder von festgenommenen Soldaten zu sehen“, und es sei „unmöglich, dies zu akzeptieren“. Er machte den Obersten Gerichtshof, der die Schließung des Gefangenenlagers gefordert hatte, für die Verhaftung der Soldaten verantwortlich und behauptete, dieser Schritt rechtfertige eine Wiederbelebung der Bemühungen um eine Justizreform.

Die rechtsextremen Parteien Otzma Jehudit und HaTzionut HaDatit (Religiöser Zionismus) haben ihre Anhänger mobilisiert und zu einer Kundgebung in Sde Teiman aufgerufen. Kulturminister Amichay Eliyahu (Otzma Jehudit), der HaTzionut HaDatit–Abgeordnete Zvi Sukkot und der Likud–Abgeordnete, Nissim Vaturi, wurden dabei beobachtet, wie sie während des Aufruhrs in die Gefängnisanstalt einbrachen. Weitere Abgeordnete, die in Sde Teiman oder Beit Lid gesehen wurden, waren Tally Gotliv, Zvi Succot und Limor Son Har-Melech. Dieser erklärte, die Militärstaatsanwältin sei „eine Kriminelle“, und: „Das israelische Volk wird gegen Feinde von außen und von innen kämpfen.“

Netanjahus Sohn Yair schrieb auf X nach der Verhaftung der Soldaten, die Staatsanwaltschaft sei „kriminell und antizionistisch“.

Channel 14 berichtete am Montag, dass die Haftbefehle gegen die Soldaten aufgehoben worden seien, und dass sich die Militärpolizei auf eine Vernehmung beschränken werde.

Netanjahu rief zur Ruhe in Sde Teiman auf und sagte, er verurteile die Erstürmung aufs Schärfste“, während Verteidigungsminister Yoav Gallant die IDF und die Militärpolizei seiner Unterstützung versicherte. Gallant sagte: „Zivilisten, die einen IDF-Stützpunkt stürmen, sind ein schwerwiegender Vorfall, der der israelischen Demokratie ernsthaft schadet und im Krieg unserem Feind in die Hände spielt.“

Staatspräsident Isaac Herzog schloss sich diesen Aufrufen an und fügte hinzu: „Lasst uns die israelischen Streitkräfte und ihre Kommandeure stärken und alle Slogans verurteilen, die nur unsere Feinde glücklich machen.“

Die israelische Menschenrechtsorganisation Public Committee Against Torture erklärte in einem Statement, dass die Soldaten auf dem Stützpunkt „gegen geltendes Recht verstoßen – zunächst in ihrer Behandlung von Gefangenen und jetzt gegenüber der militärischen Strafbehörde“, und fügte hinzu, die Unterstützung der Reservisten durch rechtsextreme Politiker sei „ein Sinnbild für die Ursachen, die solche Misshandlungen überhaupt erst möglich machen“.

Diese Ereignisse haben den Aufstieg der Rechtsextremen und ihrer faschistischen Unterstützerbanden sowie die tiefe Spaltung der israelischen Gesellschaft deutlich vor Augen geführt. Sie ist schon während Netanjahus Justizreform im vergangenen Jahr zutage getreten. Ein Kommentator in der rechtsgerichteten Jerusalem Post  zog eine Analogie zum Angriff auf das Kapitol am 6. Januar durch Donald Trumps Anhänger.

Yair Lapid, Vorsitzender der Oppositionspartei Yesh Atid, sagte: „Dies ist kein Aufstand, sondern der Putschversuch einer bewaffneten Miliz gegen einen schwachen Premierminister, der nicht in der Lage ist, die Kontrolle über seine Regierung zu übernehmen.“ Er fügte hinzu, dass die Abgeordneten, die IDF-Stützpunkte stürmten, die Botschaft vermittelten: „Sie sind mit der Demokratie fertig, sie sind mit der Rechtsstaatlichkeit fertig. Eine gefährliche faschistische Gruppe bedroht die Existenz des Staates Israel.“

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