Perspektive

USA und Russland am Rande eines offenen Kriegs

Start einer ballistischen Interkontinentalrakete vom Typ Yars auf einem Startplatz in Plessezk im Nordwesten Russlands im Rahmen von russischen Atomübungen (26. Oktober 2022). (AP Photo/Russian Defense Ministry Press Service) [AP Photo/Russian Defense Ministry Press Service]

Die Vereinigten Staaten und Russland befinden sich am Rande eines offenen Kriegs. Das ist die wesentliche Bedeutung der Berichte, laut denen die USA und das Vereinigte Königreich der Ukraine demnächst erlauben werden, NATO-Raketen für Angriffe auf russisches Territorium einzusetzen.

Am Freitag, 13. September 2024, trafen sich US-Präsident Joe Biden und der britische Premierminister Keir Starmer, um entsprechende Pläne zu besprechen. Die New York Times, die über das Treffen berichtete, sprach von „Überlegungen“ hinsichtlich einer Entscheidung, die „weitaus folgenreicher sein könnte als frühere Zugeständnisse von [Biden], bei denen in den letzten zweieinhalb Jahren hauptsächlich Verteidigungswaffen an die Ukraine geliefert wurden“.

Tatsächlich kann das Treffen von Starmer und Biden nur als finale Bestätigung einer Entscheidung verstanden werden, die längst getroffen wurde. Mit Verweis auf Äußerungen Starmers nach dem Treffen heißt es in dem Artikel der Times, Starmer habe „angedeutet, dass er mit einer baldigen Entscheidung über die Raketen rechnet“.

Der Guardian berichtete am Mittwoch, dass „bereits eine Entscheidung getroffen wurde, der Ukraine den Einsatz von Storm-Shadow-Marschflugkörpern auf Ziele innerhalb Russlands zu erlauben“.

Starmers Reise nach Washington erfolgte weniger als zwei Wochen vor seiner Teilnahme an der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. September. Offensichtlich wurde entschieden, dass der Premierminister der Labour Party zu einem dringenden Treffen mit dem Präsidenten der Demokratischen Partei zusammenkommen müsse, um die Pläne zu finalisieren.

Das Treffen zwischen Biden und Starmer fand nur einen Tag nach der Warnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin statt, dass der Einsatz von Nato-Waffen für Angriffe auf russische Städte die Nato zu einer Kriegspartei machen würde. Dies erhöhe die Gefahr russischer Vergeltungsmaßnahmen gegen Nato-Mitglieder.

Als Reaktion auf die geplante Ankündigung erklärte Putin: „Wenn diese Entscheidung getroffen wird, bedeutet das nichts anderes als eine direkte Beteiligung der Nato-Länder, der USA und der europäischen Staaten, am Konflikt in der Ukraine.“ Er fügte hinzu: „Ihre direkte Beteiligung verändert natürlich das ganze Wesen, die ganze Natur des Konflikts erheblich.“

Hinter dem Rücken der Bevölkerung wird der Krieg – mit all seinen katastrophalen Folgen – enorm eskaliert. Nach seinem Treffen mit Starmer wurde Biden von einem Reporter direkt gefragt: „Was sagen Sie zu den Kriegsdrohungen von Wladimir Putin?“ Mit atemberaubender Arroganz bellte Biden zurück: „Seien Sie still.“ Diese Worte waren zwar unmittelbar an die Presse gerichtet, doch sie waren eine Drohung an die gesamte Bevölkerung: Stellt uns nicht in Frage.

Als ihm die gleiche Frage erneut gestellt wurde, antwortete Biden: „Ich denke nicht viel an Wladimir Putin“. Dann komplimentierten Mitarbeiter des Weißen Hauses die anwesenden Pressevertreter lautstark aus dem Raum.

Die USA und das Vereinigte Königreich bereiten sich auf eine Entscheidung vor, die zu einem umfassenden Krieg zwischen atomar bewaffneten Staaten zu führen droht. Selbst wenn dieser nicht mit Atomwaffen beginnt, sind die Konsequenzen enorm.

Unabhängig vom Zeitpunkt der Ankündigung, dass Nato-Waffen für Angriffe weit im Inneren Russlands eingesetzt werden, ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass die Vereinigten Staaten und Russland am Rande eines offenen Krieges stehen.

Eine unerbittliche militärische Logik ist hier am Werk. Die Nato-Mächte reagieren auf eine Situation, in der ihre ukrainischen Stellvertreterkräfte erschöpft sind und vor einem militärischen Debakel stehen. Nur durch ein stärkeres und direkteres Eingreifen der Nato kann das gesamte Projekt des Kriegs gerettet werden.

Die Regierung Biden versucht jedoch, die enormen Gefahren, die von ihrer rücksichtslosen Eskalation des Krieges ausgehen, herunterzuspielen, indem sie behauptet, Putin würde nur bluffen und auf Nato-Angriffe gegen russische Städte nicht reagieren.

Auf die Äußerungen Putins angesprochen, erklärten Vertreter des US-Außenministeriums auf einer Pressekonferenz am Freitag: „[Diese Äußerungen] sind sehr ähnlich zu den Dingen, die er [Putin] in den letzten zweieinhalb Jahren gesagt hat. Wir haben bereits ähnliche Äußerungen von ihm gehört… Es handelt sich also nicht wirklich um eine neue Aussage von Präsident Putin.“

Diese Behauptung gibt im Wesentlichen das wieder, was republikanische Abgeordnete kürzlich bereits in einem Schreiben erklärt hatten, in dem sie zu Angriffen auf russische Städte mit Nato-Waffen aufriefen. Darin hieß es: „Weder der Einsatz der von den USA bereitgestellten Waffen in Russland durch die Ukraine noch ihr militärisches Eindringen in die russische Region Kursk – die erste ausländische Besetzung russischen Territoriums seit dem Zweiten Weltkrieg – haben eine russische Eskalationsreaktion hervorgerufen.“

Die Behauptung, dass Putin, weil er bis jetzt keine Vergeltung für die Provokationen der USA geübt hat, dies auch in Zukunft nicht tun werde, ist falsch und, offen gesagt, wahnsinnig. Was ist, wenn diese Annahme falsch ist?

Die Strategie, die die herrschende Klasse Russlands verfolgt, nämlich durch begrenzte Militäraktionen gegen die Ukraine eine Verhandlungslösung des Konflikts zu erzwingen, ist gescheitert. Putins gesamte Strategie, sich mit den imperialistischen Mächten zu arrangieren, beruhte auf einem völlig falschen Verständnis vom Wesen des Imperialismus.

Nun steht Putin selbst unter enormem Druck, auf die Eskalation der Nato zu reagieren, und hat keinen Spielraum mehr für einen Rückzug. Ein hochrangiger Berater Putins hat in einem viel beachteten Interview erklärt, dass Atomwaffen zur Verteidigung Russlands geschaffen wurden und dass die Regierung bereit sein müsse, sie einzusetzen.

Angesichts des Zusammenbruchs der militärischen Position der Ukraine versucht die Regierung Biden ihrerseits sicherzustellen, dass die „Fakten vor Ort“, unabhängig vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen in weniger als zwei Monaten, eine bedeutende Eskalation des Krieges erzwingen werden.

Es werden die Voraussetzungen für eine massive Eskalationsspirale im Krieg zwischen der Nato und Russland geschaffen – mit unabsehbaren Folgen.

Diesen Monat veröffentlichte Mehring Books das Buch Sounding the Alarm: Socialism Against War, bestehend aus Reden, die der Vorsitzende der Internationalen Redaktion der WSWS, David North, bei den vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) organisierten Online-Kundgebungen zum 1. Mai seit dem Jahr 2014 gehalten hat. In seinem Aufruf zur ersten Maikundgebung warnte North:

Wer glaubt, ein Krieg gegen China und Russland wäre ein Ding der Unmöglichkeit und die imperialistischen Mächte würden keinen nuklearen Krieg riskieren, der macht sich etwas vor. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen beiden katastrophalen Weltkriegen und seinen unzähligen, blutigen lokalen Konflikten hat zur Genüge gezeigt, welche Risiken die imperialistischen herrschenden Klassen einzugehen bereit sind. Sie würden es sehr wohl in Kauf nehmen, die Menschheit und die gesamte Erde dem Untergang preiszugeben. (aus: David North: 30 Jahre Krieg. Amerikas Griff nach der Weltherrschaft 1990-2020. S. 557.)

Alle Warnungen des IKVI und der WSWS vor der Gefahr eines globalen Krieges haben sich bestätigt. Ohne ein Eingreifen der Arbeiterklasse und die Entwicklung von Massenprotesten gegen Krieg kann der Marsch in den Krieg nicht aufgehalten werden.

Die gleichen Widersprüche, die zum imperialistischen Krieg führen, schaffen auch die objektive Grundlage für die soziale Revolution. In diesem Zusammenhang ist der Streik von mehr als 30.000 Beschäftigten bei Boeing von enormer Bedeutung. Dadurch wird nicht nur ein großer Hersteller von Passagierflugzeugen, sondern auch ein bedeutender Vertragspartner des US-Militärs im Verteidigungsbereich lahm gelegt. Unabhängig von den unmittelbaren Fragen im Zusammenhang mit Arbeitsverträgen zeigt der Streik den wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse gegen die sich vertiefende Krise des Kapitalismus, die im Krieg selbst zum Ausdruck kommt.

Diese Opposition darf nicht auf die gewerkschaftliche Ebene beschränkt bleiben, sondern muss auch auf politischer Ebene entwickelt werden. Die Bewegung der Arbeiter bei Boeing muss zu einem Sammelpunkt für den Kampf der Arbeiterklasse gegen die krankhaften, militärischen Brandstifter werden – und der Kampf der Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte muss mit dem Kampf gegen den Krieg auf Basis einer sozialistischen Perspektive verschmolzen werden.

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