Die Szenen, die sich am Freitagabend in Magdeburg abspielten, waren grauenhaft. Ein schwerer BMW-SUV raste mehrere hundert Meter weit über den dicht besuchten Weihnachtmarkt, tötete fünf fröhlich feiernde Menschen und verletzte 200, 40 davon schwer.
Das Massaker erinnert an den Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz vor acht Jahren, wo ein Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt raste, zwölf Menschen umbrachte und 48 verletzte. Nur dass es sich beim Täter diesmal nicht um einen Dschihadisten, sondern um einen Islamhasser und Anhänger der rechtsextremen AfD handelt.
Der Attentäter war den Behörden bestens bekannt. Es waren mehrere Warnhinweise über ihn eingegangen, er war wiederholt mit dem Gesetz in Konflikt geraten, hatte in den sozialen Medien eine breite Spur hinterlassen und seine Tat angedeutet und sorgfältig vorbereitet. Doch weil er nicht „Allahu akbar“ schrie, sondern gegen die angebliche Islamisierung Deutschlands hetzte, wurden die Warnungen in den Wind geschlagen.
Der mittlerweile 50-jährige Taleb Jawad Al-Abdulmohsen war 2006 aus Saudi-Arabien nach Deutschland gekommen, um sein Medizinstudium mit einer Facharztausbildung abzuschließen. Seither lebt er in Deutschland. Er arbeitete in mehreren Städten, seit März 2020 als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie im landeseigenen Salus-Klinikum Bernburg in der Nähe von Magdeburg. Dort betreute er suchtkranke Straftäter im Maßregelvollzug.
2016 beantragte Abdulmohsen erfolgreich Asyl. Er begründete seinen Antrag damit, dass er in Saudi-Arabien verfolgt werde, weil er sich vom Islam abgewandt habe und Frauen dabei helfe, aus dem Land zu fliehen. Ein Kulturattaché der saudischen Botschaft habe ihn gewarnt, ihm drohe in seiner Heimat die Hinrichtung.
Bereits drei Jahre vorher hatte ihn das Amtsgericht Rostock laut Spiegel-Recherchen wegen „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“ zu einer Strafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Grund sollen Drohungen gewesen sein, die er geäußert habe, weil seine medizinische Ausbildung nur in Teilen anerkannt wurde.
Im Mai 2019 führte die F.A.Z. ein zweieinhalbstündiges Telefongespräch mit Abdulmohsen. Obwohl dabei deutlich wurde, dass er, wie die F.A.Z. heute schreibt, „ein Getriebener“ war und von einem Thema zum anderen sprang – „seiner tiefen Abneigung gegenüber dem Islam, der dramatischen Lage der saudi-arabischen Frauen, seiner Familie, die ihn verstoßen habe“ –, veröffentlichte die Zeitung im Juni 2019 ein langes Interview mit ihm. Es erschien unter der Überschrift: „Ich bin der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte.“
Abdulmohsen stellt sich darin als Vorkämpfer für die Rechte arabischer Frauen dar und erzählt Schauergeschichten über Väter, die ihre Töchter missbrauchen und ermorden. Was dabei Fakt und was erfunden war, scheint die F.A.Z. nicht überprüft zu haben. Auf jeden Fall passte das Interview bestens in eine politische Atmosphäre, in der alle Parteien Ressentiments gegen Flüchtlinge und Muslime schürten und die kurzzeitige Öffnung der Grenzen im Sommer 2015 zur Erbsünde der deutschen Politik erklärten.
Der Twitter/X-Account Abdulmohsens, der schon 2019 15.000 Follower hatte, entwickelte sich entsprechend. Hatte er anfangs noch gegen den Islam und die saudischen Behörden geschimpft, fühlte er sich zunehmend von den deutschen Behörden verfolgt, denen er vorwarf, Deutschland zu islamisieren.
„Deutschland jagt saudische Asylbewerberinnen innerhalb und außerhalb Deutschlands, um ihr Leben zu zerstören. Deutschland will Europa islamisieren,“ heißt es in der englischsprachigen Kurzbiographie seines X-Accounts. Selbst Flüchtlingsorganisationen, die sich um Hilfe für religiös Verfolgte bemühen, attackierte er heftig. So warf er der „Säkularen Flüchtlingshilfe Deutschland” Spendenmissbrauch und Korruption vor.
„Die Spuren, die Abdulmohsen online in den vergangenen Jahren hinterließ, geben verstörende Einblicke in eine Welt, abgekoppelt von der Realität,“ berichtet der Spiegel. „Abdulmohsens Vorbilder: Elon Musk, der US-Hetzer Alex Jones, der rechtsextreme Brite Tommy Robinson. Er sympathisierte offen mit der AfD und träumte von einem gemeinsamen Projekt mit der in weiten Teilen rechtsextremen Partei: einer Akademie für Ex-Muslime.“ Für Ex-Kanzlerin Angela Merkel forderte er die Todesstrafe.
Im August 2023 drohte er auf seinem X-Account, dessen Titelbild eine automatische Handfeuerwaffe ziert, wahllos Deutsche zu töten: „Ein rein philosophischer Fragebogen: Würden Sie es mir verübeln, wenn ich wahllos 20 Deutsche töte, weil Deutschland gegen die saudische Opposition vorgeht?“ Der Eintrag wurde – wahrscheinlich von ihm selbst – wieder gelöscht, doch Kopien blieben erhalten.
Im Mai 2024 sprach er auf X in arabischer Sprache von einem „Krieg“ mit den deutschen Behörden und verkündete, es sei wahrscheinlich, „dass ich noch in diesem Jahr dafür sterben werde“. Dies wiederholte er auch in Privatnachrichten mit anderen X-Nutzern, die der Spiegel einsehen konnte.
Zuletzt verfasste Abdulmohsen auf X bis zu 250 Nachrichten pro Woche, in denen er sich als glühender Anhänger der AfD darstellte und Video-Ausschnitte eines islamophoben Accounts postete. Zehn Tage vor der Tat drohte er auf Arabisch, der Westen verstehe nur „Gemetzel und Gewalt“. „Wer nicht in die Luft jagt und tötet, wird von den Deutschen nicht respektiert.“
Acht Tage vor der Tat veröffentlichte ein islamfeindlicher US-Blog ein Videointerview mit Abdulmohsen. Darin wirft er dem deutschen Staat vor, er betreibe eine „verdeckte Geheimoperation“, um weltweit saudische Ex-Muslime „zu jagen und ihr Leben zu zerstören“. Gleichzeitig erhielten syrische Dschihadisten in Deutschland Asyl.
Laut Spiegel hat der saudi-arabische Geheimdienst den deutschen Bundesnachrichtendienst 2023 und 2024 drei Mal vor Abdulmohsen gewarnt. Dabei soll es auch um den Post gegangen sein, in dem er drohte, Deutschland werde einen „Preis“ bezahlen. Die Warnung erreichte auch die Polizei. Laut Welt gelangten aber das Landeskriminalamt in Magdeburg und das Bundeskriminalamt zum Schluss, dass „keine konkrete Gefahr“ von ihm ausgehe.
Den Anschlag selbst hatte Abdulmohsen offenbar sorgfältig vorbereitet. Wenige Tage vorher hatte er in einem Magdeburger Hotel übernachtet, wohl um die Gegend auszukundschaften. Für den Anschlag mietete er einen schweren, PS-starken BMW und drang über die einzige Zufahrt auf den Weihnachtsmarkt vor, die nicht durch Barrieren gesichert und nur über eine Fußgängerzone erreichbar war. Nach dem Anschlag kehrte er auf die normale Straße zurück, wo er von der Polizei gestoppt und verhaftet wurde.
Bevor Einzelheiten über den Anschlag bekannt waren, versuchten ihn Rechtsextreme für ihre Zwecke auszuschlachten.
Elon Musk, der wenige Stunden vor dem Anschlag mit den Worten „Nur die AfD kann Deutschland retten“ zur Unterstützung der rechtsextremen Partei aufgerufen hatte, forderte als Reaktion auf den Anschlag den sofortigen Rücktritt von Bundeskanzler Olaf Scholz, den er als „incompetent fool“, als „unfähigen Idioten“ beschimpfte. Außerdem teilte er einen Beitrag, der die Ereignisse in Magdeburg mit „Masseneinwanderung“ in Verbindung brachte.
Auch nachdem der Täter identifiziert und seine rechtsextreme, islamophobe Gesinnung bekannt ist, versucht die AfD den schrecklichen Anschlag für ihre reaktionären Zwecke auszuschlachten. Die Parteivorsitzende Alice Weidel will am heutigen Montag an einer Demonstration in Magdeburg teilnehmen.
Sahra Wagenknecht, deren Partei der AfD in nichts nachsteht, wenn es um Flüchtlingshetze und den Ruf nach Law and Order geht, forderte die Bundesregierung auf, „endlich ein überzeugendes Sicherheitskonzept mit klarem Fokus auf den Schutz der Bevölkerung“ vorzulegen.
Der politische Hintergrund der Tat von Magdeburg zeigt, dass Rechtsextremismus, Flüchtlingshetze und terroristische Gewalt gegen die Bevölkerung Hand in Hand gehen. Natürlich spielt die Persönlichkeit des Täters bei solch fürchterlichen Massakern eine Rolle. Doch politischer Hass und Verfolgungswahn können nur in einer kranken Gesellschaft, in der Gewalt und das Töten von Menschen zur Normalität geworden sind, zu einem derart monströsen Verbrechen führen.
Allein im Mittelmeer hat die unmenschliche Abschottungspolitik der EU von Januar bis November diesen Jahres 2000 Todesopfer gefordert, das sind sechs pro Tag, die Dunkelziffer nicht eingerechnet; in den letzten zehn Jahren waren es fast 31.000. In Gaza ereignen sich seit 14 Monaten jeden Tag mehrere Magdeburgs, wenn israelische Kampfjets Wohnhäuser und Flüchtlingslager bombardieren und dabei wahllos Kinder und Frauen töten. Und in der Ukraine werden hunderttausende junge Männer für einen Krieg geopfert, der den imperialistischen Mächten der Nato dient.
Die etablierten Parteien, die für diese Politik verantwortlich sind, tragen auch die Verantwortung für die Katastrophe von Magdeburg. Sie verteidigen ein krankes kapitalistisches Gesellschaftssystem, dass nur noch durch Krieg, Unterdrückung, Sozialabbau und verschärfte Ausbeutung überleben kann. Das führt dazu, dass immer öfter Sicherungen durchbrennen, wie in den USA, wo Amokläufe an Schule inzwischen zur Tagesordnung gehören.
Diese Entwicklung kann nur durch den Aufbau einer Bewegung gestoppt werden, die die Arbeiterklasse über alle Grenzen hinweg vereint und für eine menschliche, d.h. sozialistische Gesellschaft kämpft.