Revisionsklausel im VW-Tarifvertrag: Kein Arbeitsplatz, kein Standort ist sicher!

Am heutigen Dienstag um 12 Uhr tritt der so genannte „Zukunftstarifvertrag“ in Kraft, den die IG Metall mit VW vereinbart hat. Der World Socialist Web Site liegen Vertrag und Vereinbarung vor, die die IG Metall als „Weihnachtswunder von Hannover“ feiert. Sie belegen, dass die Zusicherungen, die der Konzern als Gegenleistung für den Abbau von 35.000 Arbeitsplätzen und für Reallohnsenkungen von bis zu 20 Prozent gegeben hat, das Papier nicht wert sind, auf dem sie geschrieben sind.

Dietmar Gaisenkersting spricht über die tatsächlichen Reallohnsenkungen und Stellenstreichungen bei VW

Die IG Metall und der Betriebsrat haben die Belegschaft belogen und betrogen. Sie haben dem Vertrag unmittelbar vor den Weihnachtsfeiertagen zugestimmt, weil sie und die mit ihnen verbündete SPD unbedingt verhindern wollten, dass es während des Bundestagswahlkampfs zu einem unbefristeten Streik beim größten deutschen Autohersteller kommt.

Ein solcher Streik hätte Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in der gesamten Autoindustrie, in anderen Industrien und im öffentlichen Dienst ermutigt, ebenfalls für ihre Einkommen, für bessere Arbeitsbedingungen und für bezahlbare Mieten zu kämpfen. Der Wahlkampf hätte sich völlig verändert.

Das wollten die IG Metall und die SPD um jeden Preis vermeiden, besteht doch der gesamte Sinn und Zweck der vorgezogenen Wahl darin, eine stabilere Regierung ans Ruder zu bringen, die die Militärausgaben verdreifacht, die Sozialausgaben zusammenstreicht, die Aktienkurse in die Höhe treibt und auf dem Rücken der Arbeiter Handelskrieg und Krieg führt.

Noch am letzten Freitag hat die IG Metall in einem Flugblatt behauptet, das Tarifergebnis sichere „langfristige Perspektiven in den VW-Regionen“. Thorsten Gröger, Bezirksleiter und Verhandlungsführer der IG Metall, erklärt darin, es sei „gelungen, für die Beschäftigten in den VW-Regionen eine Lösung zu finden, die Arbeitsplätze schützt, Produkte sicherstellt und Zukunftsinvestitionen ermöglicht“. Zukunftslösungen seien „ohne Personalsense“ möglich.

Daniela Cavallo, die VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende, wird mit der Aussage zitiert: „Kein Standort wird dichtgemacht, niemand wird betriebsbedingt gekündigt und das Entgelt-Niveau unseres Haustarifs wird langfristig abgesichert.“ Das sei eine „grundsolide Lösung“.

Gröger und Cavallo lügen das Blaue vom Himmel herunter. Nichts davon entspricht der Wahrheit. Der Paragraf 7 des „Zukunftstarifvertrags“ beinhaltet eine „Revisionsklausel“, in der es heißt: „Bei wesentlichen Änderungen der Grundannahmen oder der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen“ kann der Konzern ein „Überprüfungsgespräch“ einberufen. „Die Tarifvertragsparteien erörtern dabei die notwendigen Maßnahmen unter Einschluss sozialpolitischer Instrumente.“

Mit anderen Worten: Wenn der Konzern unter Leitung von VW-Chef Oliver Blume meint, das zugesicherte Arbeitsplatzmassaker und die hohen Lohn- und Gehaltskürzungen reichten nicht aus, um die Rendite für die Aktionäre zu erhöhen, sind alle Vereinbarungen Makulatur. Dann arbeiten Management und Gewerkschaft neue Maßnahmen und „Instrumente“ aus.

Standortschließungen sind demnach nicht ausgeschlossen, sondern nur verschoben. Das wird in Wirtschafts- und Gewerkschaftskreisen offen so diskutiert. In der letzten Woche schrieb die WirtschaftsWoche, der Tarifvertrag sehe vor, „dass jeder Standort sogenannte Fabrikkostenziele bekommt“. Erreichen Standorte diese Ziele nicht, werden „zusätzliche Maßnahmen definiert“ – und womöglich der Standort infrage gestellt. „Denn die Vergabe neuer Produktionsvolumina sei vom Erreichen der Ziele abhängig.“

Vor allem die Werke in Emden und Zwickau mit rund 17.000 Beschäftigten stehen vor dem Aus. Ende 2024 lief die Produktion von Verbrenner-Autos in Emden aus, jetzt werden E-Autos auf nur noch einer Montagelinie gefertigt. „Damit dauerhaft wirtschaftlich zu sein, sagen Insider, sei schwerlich möglich“, schreibt die WirtschaftsWoche.

Im Werk Zwickau fahre man nun „das Konzept Emden“, zitiert die Zeitschrift einen „Insider“. „Wenn ab 2027 die beiden E-Modelle ID.3 und Cupra Born nach Wolfsburg gehen, schrumpft der Standort Zwickau von heute zwei Montagelinien auf dann nur noch eine.“ Das Facelift des ID.4 soll zudem nicht nach Zwickau kommen. „Was bleibt, sind zwei Q4-Modelle von Audi.“

Das Werk sei dadurch bedroht, zitiert die WirtschaftsWoche Dirk Vogel, den Chef des Netzwerks Automobilzulieferer Sachsen (AMZ). Das Werk sei auf den Bau von 360.000 Fahrzeugen pro Jahr ausgelegt, werde aber ab 2027 weniger als 130.000 Autos bauen – und sei damit längst nicht mehr so profitabel wie heute. „Es besteht die reale Gefahr“, so Vogel, „dass Audi dann die Produktion des Q4 e-tron ans Stammwerk nach Ingolstadt holt und Zwickau ganz ohne Modell dasteht.“

Exakt so wird es den rund 2300 Beschäftigten im Werk Osnabrück im Sommer 2027 ergehen. Dann läuft dort die Produktion des T-Roc-Cabrios aus. Porsche hat seine Montageaufträge für das Werk zurückgezogen und behält diese in seinen eigenen Fabriken. Das kleine Werk in Dresden (340 Beschäftigte) beendet schon Ende dieses Jahres die Fahrzeugproduktion.

Neben der Revisionsklausel, die die angebliche Beschäftigungs- und Standortsicherung ad absurdum führt, beinhaltet der „Zukunftstarifvertrag“ der IG Metall zahlreiche weitere Maßnahmen, mit der die IG Metall die Belegschaft den Profitinteressen des Konzerns unterwirft.

Paragraf 2 regelt die fälschlich so bezeichnete „Beschäftigungssicherung“. Danach sind Beschäftigte verpflichtet, „zugewiesene Tätigkeiten“ anzunehmen. Über die Zumutbarkeit entscheiden Betriebsräte und Manager.

Sollte die Zahl der abzubauenden Arbeitsplätze nicht erreicht oder aufgrund der wirtschaftlichen Lage erhöht werden, kann die Arbeitszeit „kollektiv auf bis zu 28 Stunden in der Woche“ abgesenkt werden. Zuvor müssen andere Maßnahmen abgestimmt werden: „Reduzierung von Mehrarbeit, Abbau von Zeitkonten, Nutzung standortübergreifender Mobilität, Kurzarbeit.“

Auch die am 20. Dezember vereinbarte Abschaffung des so genannten Haustarifvertrags 1 birgt noch einen möglichen Stellenabbau über die vertraglich zugesicherte Zahl hinaus. Die über 30.000 Beschäftigten, für die dieser Vertrag gilt, arbeiten 33 Stunden (Produktion) bzw. 34 Stunden (Verwaltung) in der Woche. Sie sollen in den Haustarifvertrag 2 wechseln und dort dann 35 Stunden in der Woche arbeiten. Die WirtschaftsWoche kommt zum Schluss, dass sich die ein oder zwei zusätzlichen Wochenstunden auf die Mitarbeiterzahl auswirken werden. „Es könnten zusätzliche Arbeitsplätze entfallen.“

Im Paragrafen „3.1 Standortzusagen“ des Zukunftstarifvertrags werden für jedes Werk Standortvereinbarungen eingefordert, in denen „konkrete verbindliche Zusagen“ zu „Werkbelegung, Planstückzahl, Kompetenzentwicklung, Fabrikkostenzielen, Belegschaftsentwicklung und Produktrenditen“ aufgenommen werden müssen.

Diese Standortvereinbarungen werden als Grundlage für die weitere Ausbeutung und Erpressung der Belegschaften der einzelnen Werke dienen.

Für das Stammwerk in Wolfsburg deutet die WirtschaftsWoche bereits an, wohin die Reise geht. Dort arbeiten aktuell rund 65.000 von der Vereinbarung betroffene VW-Arbeiter, davon etwa 20.000 in der Fahrzeug- und Komponentenfertigung.

„Wie viele Menschen in der Produktion überflüssig werden, ist noch nicht bekannt.“ Aber von den bis 2030 bei Volkswagen wegfallenden Stellen sollen rund 29.000 auf das Bundesland Niedersachsen entfallen. „Natürlich trägt Wolfsburg die Hauptlast – es ist mit Abstand der größte Standort“, zitiert die Zeitschrift einen „Insider“. Die WirtschaftsWoche geht davon aus, dass rund 15.000 Arbeitsplätzen am Stammsitz abgebaut werden.

Hinzu komme, dass in der Technischen Entwicklung in Wolfsburg bis 2030 rund 4000 der 12.000 Jobs wegfallen sollen. VW wolle „bei den Entwicklungskosten die Stundensätze reduzieren“. Škoda und VW do Brasil sollen künftig Arbeiten übernehmen. Sie hätten „die notwendigen Kapazitäten“.

Auch ein Abbau in der Verwaltung, den so genannten indirekten Bereichen, sei bereits beschlossene Sache. Bis 2026 wolle man dort die Personalkosten um 20 Prozent senken. „Neu vereinbart sei nun, so ein Insider, dass man in den Jahren 2027 bis 2030 zusätzlich je drei Prozent der Personalkosten spare. In Summe reden sie bei VW von 32 Prozent geringeren Personalkosten in den indirekten Bereichen.“

Weitere Lohnkürzungen – über die bereits ausgehandelten hinaus – erfolgen über das vereinbarte „Moderne Entgeltsystem“. „Durch Einführung eines neuen Entgeltsystems reduziert sich die tarifliche Entgeltsumme (ohne Besitzstände) am 01. Januar 2027 um 6 Prozent,“ heißt es in Punkt 5 der Vereinbarung vom 20.12.2024.

Beschäftigten werden zukünftige Entgelterhöhungen – die die IG Metall für 2027 angekündigt hat – bis Ende 2030 auf ihre Besitzstände angerechnet. „Sollten am 01. Januar 2031 die individuellen Besitzstände noch nicht in Höhe von 6 Prozent verrechnet sein, so erfolgt eine Verrechnung mit der zum 01. Januar 2031 einsetzenden Entgelterhöhung in Höhe von 5,5 Prozent.“

Die IGM-Funktionäre haben von Anfang an mit der Opposition der Belegschaft gerechnet, sobald sich der Nebel aus Lügen, Halbwahrheiten und Verdrehungen verzogen hat und der wahre Inhalt ihrer Vereinbarung sichtbar wird. Deshalb hat die Verhandlungskommission unter Gröger vor Weihnachten auch vereinbart, dass das Urlaubsgeld abgeschafft und als IGM-Mitgliederbonus weitergeführt wird. Das soll verhindern, dass die VW-Beschäftigten zu Tausenden die Gewerkschaft verlassen. Gröger, Cavallo und Co. betrachten sich und ihren Apparat als Garanten dafür, dass die Konzerninteressen gegen die Belegschaft und die eigenen Mitglieder durchgesetzt werden.

Am Freitag schrieben sie in ihrem Flugblatt: „Der Abschluss löst sicher keine Jubelstürme aus, aber schafft Sicherheit für Existenzen, Familien und kommende Generationen.“ Jetzt, da klar wird, dass es keinerlei Sicherheit für die Belegschaften und ihre Familien gibt, erwartet sie ein Sturm der Entrüstung.

Diese Entrüstung und Wut braucht eine klare politische und organisatorische Perspektive. Kolleginnen und Kollegen, die gegen die Kapitulation des IGM-Apparates aufstehen wollen, müssen unabhängige Aktionskomitees aufbauen, die für die sozialen Interessen der Belegschaft und nicht für die Profitinteressen der Aktionäre kämpfen. Anfang des Jahres schrieben wir: „Nur in dem Maße, in dem die Macht den Händen der Bürokratie entrissen und auf die Arbeiter in den Betrieben übertragen wird, können Gewerkschaften wieder zu Instrumenten des Klassenkampfs werden.“

Es ist Zeit, dem Klassenkampf von oben den Klassenkampf von unten entgegenzusetzen. Nehmt dazu über das Formular Kontakt mit uns auf oder schreibt einfach eine Nachricht über WhatsApp an die +491633378340.

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