Mitte Januar fand in Frankfurt die Konferenz „Talking about (the Silencing of) Palestine“ mit über 60 Sprechern von Universitäten aus zehn Ländern und mehreren hundert Teilnehmern statt. Weitere rund 2.000 Zuhörer nahmen online teil. Die Konferenz musste sich gegen einen erheblichen öffentlichen Widerstand und den Boykott der renommierten Goethe–Universität durchsetzen, die ihr kurz vor Beginn alle Räume gekündigt hatte.
Die zweitägige Konferenz behandelte am 16. und am 17. Januar zahlreiche Themen der Geschichte und Gegenwart Palästinas, des Zionismus und Israels, sowie der Wahrnehmung, bzw. des Verschweigens des Genozids in Gaza in der Öffentlichkeit und an den westlichen Universitäten. Es gab eine Fülle interessanter, detaillierter Vorträge von Forschern, Dozenten, Nahostexperten, Historikern, Journalisten, Ärzten und Aktivisten.
Unter ihnen waren der australische Genozidforscher und Geschichtsprofessor in New York, A. Dirk Moses, die Soziologin Donatella della Porta aus Florenz, die Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten, die an der Birzeit-Universität in Ramallah tätig war, oder Wieland Hoban, der Herausgeber der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost.
Viele palästinensische Sprecher waren da, wie der Anthropologe Rami Salameh von der Birzeit-Universität, der zwei Tage für die Reise aus dem Westjordanland nach Frankfurt benötigt hatte, der Forscher und Herausgeber Hazem Jamjoun, der das sehr informative Einführungsreferat über die Geschichte des Konflikts hielt, oder die Professorin, Schriftstellerin und Ärztin Ghada Karmi. (Kurze Stellungnahmen einiger Sprecher sind hier zu finden.)
Laut einem Pressestatement bestand das Ziel der Konferenz darin, „die Dynamiken der Diskussion über Palästina zu erforschen und zu thematisieren“ und dem Versuch entgegenzuwirken, Gespräche über Palästina von vorneherein mundtot zu machen. „Diese Konferenz“, hieß es weiter, „ist ein Versuch, kritische Diskursräume an den Universitäten zu verteidigen und zu öffnen.“
Aber das war für die Goethe-Universität schon zu viel. Keine zehn Tage vor Konferenzbeginn ließ Universitätspräsident Enrico Schleiff mitteilen, dass die Raumbuchungen für die Konferenz suspendiert seien, und einen Tag später erfuhren die Organisatoren aus der Presse, dass die Uni jegliche Raumvergabe gestrichen habe. Vorausgegangen war eine Kampagne des hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker (CDU), der in einer Presseerklärung die Konferenz als „Wanderzirkus bekannter Israelhasser“ denunzierte.
Dieselbe Goethe-Universität, die keine Bedenken hatte, als es darum ging, im Rahmen von Susanne Schröters „Islamforschung“ rechte Hetzer wie Boris Palmer einzuladen oder auch den Polizeiideologen Rainer Wendt (der nur knapp aufgrund eines Entrüstungssturms unter Studierenden und Mitarbeitern wieder ausgeladen wurde), kritisierte im Fall der Palästina-Konferenz die „Kurzfristigkeit“ des Antrags und die „mangelnde Transparenz“ der Antragsteller. Dabei waren die Organisatoren hauptsächlich selbst Dozenten, wissenschaftliche Mitarbeiter und Studierende der Frankfurter Uni. Sie hatten schon seit April vergangenen Jahres, seit dem Protestcamp der „Students4Palestine“, immer wieder versucht, mit der Uni-Leitung ins Gespräch zu kommen.
Im Mai 2023 hatte dieselbe Frankfurter Universität auch eine Anti-Kriegs-Versammlung der International Youths and Students for Socialist Equality (IYSSE) in den Räumen der Evangelischen Studierendengemeinde zu unterbinden versucht. Diese konnte schließlich aufgrund einer internationalen Protestkampagne doch stattfinden. Die jüngste Palästina-Konferenz musste jedoch kurzfristig auf Räume von Medico International ausweichen.
„Diese Konferenz hätte an der Uni stattfinden müssen“, erklärte Dr. Ilyas Saliba aus Berlin in der Abschlussrunde, die den „Perspektiven akademischer Freiheit“ gewidmet war. Er schilderte, wie in letzter Zeit eine immer stärkere politische Einflussnahme dazu geführt habe, dass Polizeipräsenz auf dem Campus zum Normalzustand werde. In der Gesellschaft werde Feindschaft gegen Akademiker geschürt. In der Folge gerieten nicht nur Palästina-Themen unter Beschuss: „Auch Covid- oder Klima-Fragen sind von Diffamierung und Hassreden betroffen.“
Die italienische Professorin Donatella della Porta ergänzte, dass der Boykott durch die Goethe-Universität keineswegs ein Einzelfall sei, und wies auf Dutzende Fälle hin, wie den des libanesisch-australische Wissenschaftlers Ghassan Hage, den das Max-Planck-Institut fristlos entlassen hatte, weil er es wagte, den israelischen Massenmord an den Palästinensern in sozialen Medien zu verurteilen.
Della Porta kritisierte die deutsche „Staatsraison“, die mit einem missbräuchlichen „Antisemitismus“–Begriff operiere, indem sie die Definition der International Holocaust Remembrance Association (IHRA) zugrunde lege. Diese Definition ist ein ahistorisches und anti-demokratisches Konstrukt, das jede politische Opposition gegen Zionismus und gegen Israels Unterdrückung der Palästinenser als „antisemitisch“ definiert. Bezeichnenderweise haben sämtliche Bundestagsparteien dieser schändlichen Definition zugestimmt oder sie (wie Die Linke) stillschweigend unterstützt. Della Porta wies darauf hin, dass dahinter wirtschaftliche und militärische Interessen stecken, die mit wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.
Dr. Britta Ohm, Medienanthropologin an der Gutenberg-Universität Mainz, beleuchtete dann die sozialen Strukturen, die an den Universitäten vorherrschen und Zensur begünstigen. Sie führte den Teilnehmern vor Augen, dass 92 Prozent des Hochschulpersonals nur auf Zeit eingestellt seien und ihre Stelle jederzeit verlieren könnten. Nur acht Prozent, die Professoren, seien „Beamte auf Lebenszeit“. Diese seien „nicht antastbar. Sie haben die Macht über alles.“ Sie erinnerte an die Rolle, die Uni-Professoren in der Nazizeit gespielt hatten.
Eine studentische Mitarbeiterin aus Leipzig, die auch auf dem Podium saß, rief dazu auf, nicht zu akzeptieren, dass „die Forschung ins Militärische geht. Sie unterstützen den Genozid! Wir akzeptieren zu schnell die Niederlage, wir kämpfen zu wenig. Glauben wir an die Universitäten als Raum der Diskussion?“ Dr. Hanna Pfeifer, Professorin für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität, sagte, es gehe darum, „die Unis als akademisches Unternehmen zurückzuerobern“.
Dies löste zum Abschluss der Konferenz eine streckenweise emotionale Diskussion aus. Im Publikum saßen viele Studierende, und sie schilderten ihre Erfahrung seit dem Solidaritätscamp im Frühsommer mit staatlicher Repression und einem „Klima der Angst“.
Einer sagte: „Eine [Susanne-] Schröter-Konferenz wird völlig anders behandelt als unsre Konferenz; ihr wird alles bezahlt. Warum? Ihre Forschung zum Islam, zur Migration und der Polizei entspricht direkt den Bedürfnissen des Staates.“ Ein weiterer bezeichnete die Unis als „Orte der Reproduktion der gesellschaftlichen Ordnung“.
Ein Teilnehmer sagte: „Nach dem 8. Oktober 2023 habe ich meinen Beruf aufgegeben, das war ein sehr schweres Jahr!“ Einige brachten die Meinung zum Ausdruck, dass man mit stärkerem Protest und Druck auf die Herrschenden mehr hätte erreichen können, während andere die Meinung unterstützten, man müsse die Unis angreifen.
Am Schluss der Konferenz stimmten die Studierenden Parolen an wie: „The students united will never be defeated“ (Studierende, die sich einig sind, werden niemals unterliegen). Dies brachte die tatsächliche Perspektivlosigkeit bezüglich der notwendigen Konsequenzen zum Ausdruck. Während es wichtig war, dass die Konferenz sich gegen den Boykott durchsetzen und erfolgreich stattfinden konnte, endete diese mit der offenen Frage: Wie kann es weitergehen?
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Diese Frage kann nur mit einer marxistischen Perspektive beantwortet werden. Es ist klar: um den Genozid an den Palästinensern zu stoppen und das offizielle Schweigen zu durchbrechen, werden Appelle an mehr Militanz und Entschlossenheit im akademischen Milieu nicht reichen. Dazu ist es notwendig, sich an die Arbeiterklasse zu wenden, sie aufzuklären und für ein sozialistisches Programm gegen Krieg und Völkermord zu gewinnen.
Dass die Konferenz diese Frage gerade in Frankfurt so scharf aufwarf und unbeantwortet ließ, ist kein Zufall. Die Goethe-Universität ist die historische Hochburg der von Max Horkheimer und Theodor Adorno entwickelten „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule. Während der Marxismus, wie Marx und Engels, Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki ihn auffassten, untrennbar mit einer Orientierung auf die Arbeiterklasse verbunden ist, hatte die Frankfurter Schule die Arbeiter als revolutionäre Klasse abgeschrieben. Sie sah in den Produktionsarbeitern nur eine rückständige, durch Konsum, Medien und repressive Erziehung verbürgerlichte Masse.
Diese Auffassung gilt es zu überwinden, wenn es eine Zukunft geben soll. Die Autorin dieser Zeilen bot an der Konferenz das Buch „Die Logik des Zionismus: Vom nationalistischen Mythos zum Genozid in Gaza“ von David North an. In dem Band wird die Perspektive des Marxismus zur Palästinafrage ausgeführt, wo es heißt: „Wie heldenhaft der Kampf der Palästinenser auch sein mag, die unerträglichen Bedingungen, mit denen sie konfrontiert sind, können ohne die Entwicklung einer internationalen Bewegung der Arbeiterklasse für den Sozialismus nicht beseitigt werden.“
Dies wird in der Entwicklung der letzten Tage und Trumps Amtsantritt in Washington sehr deutlich. Dem sogenannten Waffenstillstand in Gaza ist nicht zu trauen; schon das Abkommen über einen Waffenstillstand mit dem Libanon wird von Israel seit November 2024 immer wieder verletzt. Donald Trump hat an seinem ersten Tag unter vielen neuen Dekreten eine Verfügung unterzeichnet, die alle Sanktionen gegen gewalttätige Siedler im Westjordanland aufhebt.
Auch in Deutschland setzen die Regierungspolitiker ihre Angriffe auf Palästinenser und auf Migranten insgesamt fort. Anfang Januar wurde bekannt, dass die deutschen Behörden zahlreichen NGOs stillschweigend die Gelder gestrichen haben. Dies betrifft mindestens sechs palästinensische und zwei israelische Organisationen, Zochrot und New Profile, die sich für Kriegsdienstverweigerer und für die Aufarbeitung der israelischen Geschichte einsetzen.
Der Angriff ist Bestandteil der sozialpolitischen Zeitenwende. Durch vorgezogene Neuwahlen soll eine stabile Regierung ans Ruder kommen, um die Militärausgaben zu verdreifachen, die Sozialausgaben zusammenzustreichen und Massenentlassungen wie bei VW durchzusetzen. Damit steht auch in Deutschland die Arbeiterklasse vor gewaltigen neuen Kämpfen. Sie ist die einzige Kraft, die in der Lage ist, die Zustände zu ändern.
Auf der ganzen Welt wächst der Widerstand gegen die israelische Politik der Eliminierung palästinensischen Lebens, sowie auch gegen die Kollaboration der jeweils eigenen Regierung mit den zionistischen Schlächtern. Dieser Widerstand kann nur wirksam werden, wenn er sich auf die Arbeiterklasse stützt und sie mit einer sozialistischen und internationalen Perspektive bewaffnet. Nur so kann der Genozid beendet, der jüdische Apartheidstaat überwunden und durch einen Staat ersetzt werden, der seinen palästinensischen und jüdischen Bürgern völlige Gleichberechtigung gewährt.
Wie es in „Die Logik des Zionismus“ weiter heißt:
Die gegenwärtige Situation ist von einem großen historischen und politischen Widerspruch geprägt. Die israelische Arbeiterklasse kann ihre eigenen demokratischen Rechte nicht verteidigen, ohne für die demokratischen Rechte der palästinensischen Bevölkerung gegen die zionistische Unterdrückung zu kämpfen. Und die Palästinenser können ihren Kampf für demokratische Rechte und soziale Gleichheit ohne ein Bündnis mit der israelischen Arbeiterklasse nicht verwirklichen. Die einzige realistische Perspektive ist nicht der Mythos der „Zweistaatenlösung“, sondern ein vereinigter sozialistischer Staat jüdischer und arabischer Arbeiter.