Massenproteste in Griechenland und weltweit fordern ein Ende der Vertuschung des Zugunglücks von Tempi

Hunderttausende Menschen haben am Sonntag, den 26. Januar, in den wichtigsten Städten Griechenlands und in Großstädten weltweit demonstriert. Die Proteste forderten Gerechtigkeit für die 57 Opfer des Zugunglücks von Tempi 2023 und ein Ende der Vertuschung der Katastrophe durch die Regierung.

Gestern hatten erneut Schüler- und Studentenverbände zu Kundgebungen in 30 griechischen Städten aufgerufen. Für den 28. Februar, den Jahrestag des Zugunglücks, sind landesweite Proteste geplant.

Die Demonstrationen erinnern an die Massenbewegung der Arbeiterklasse gegen die Sparpolitik in Griechenland ab 2010.

Die Kundgebung der Vereinigung der Familien der Opfer des Zugunglücks von Tempi auf dem Syntagma-Platz in Athen, Griechenland, 26. Januar 2025 [AP Photo/Yorgos Karahalis]

Auslöser für die Demonstrationen war die Ausstrahlung von Tonaufnahmen durch den Sender Kontra am 17. Januar, aus denen hervorgeht, dass etwa 30 der 57 Opfer der Tempi-Tragödie noch eine Zeit lang nach dem Unfall am Leben waren. Sie starben wahrscheinlich an Erstickung oder Verbrennung, da der Zusammenstoß des Personenzugs mit einem Güterzug eine gewaltige Explosion verursacht hatte und die vorderen Waggons in Flammen aufgingen.

Die Ton-Leaks gingen viral und der Verband der Angehörigen der Tempi-Opfer rief zu Protesten gegen die rechte Regierung unter Nea Dimokratia (ND) auf.

Auf dem Tonband ist zu hören, wie eine junge Passagierin aus dem Zug die Notrufnummer 112 anruft und keucht: „Ich habe keinen Sauerstoff.“ Ihre Worte wurden zum Hauptslogan der Proteste, zusammen mit „Kein Verbrechen ohne Strafe. Unabhängige Justiz für alle.“

Die Tempi-Katastrophe vor zwei Jahren war das tödlichste Unglück in der Geschichte der griechischen Eisenbahn. Bislang wurde keine einzige Person in den Regierungskreisen zur Rechenschaft gezogen. In Europa ereignete sich die letzte große Zugkatastrophe 2013 in Spanien, wo 80 Menschen bei einer Entgleisung starben.

In Griechenland und auf der ganzen Welt fanden am 26. Januar fast 200 Demonstrationen statt, davon zwei der größten Proteste der letzten Jahre mit mehreren zehntausend Teilnehmern in Athen vor dem Parlament auf dem Syntagma-Platz und in der zweitgrößten Stadt Thessaloniki (siehe Video unten).

Ein Teil der interaktiven Karte der Organisatoren, die viele der fast 200 Proteste zeigt, die am Sonntag, 26. Januar 2025, in Griechenland und international stattfanden [Photo: Utopia Creative Group]

Rund 500 Menschen demonstrierten vor der griechischen Botschaft in London und ebenso viele in Berlin. Proteste gab es auch in Brüssel sowie in Edinburgh, Köln, Paris, Madrid, Barcelona, Amsterdam, Helsinki, Nikosia, Reykjavik und Valetta. In Nordafrika fand eine Demonstration in der ägyptischen Hauptstadt Kairo statt, in Nordamerika wurde in New York, Boston und Toronto protestiert.

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In Athen und Thessaloniki gingen Einsatzkräfte der Bereitschaftspolizei MAT mit Tränengas und Schlagstöcken gegen Demonstranten vor und verletzten den Reporter Marios Lolos, den ehemaligen Vorsitzenden der Gewerkschaft der Fotojournalisten.

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Das Tempi-Unglück hat in Griechenland enorme Wut ausgelöst, vor allem unter jungen Menschen, die 2023 millionenfach auf die Straße gingen. Einen Monat später folgte ein Generalstreik. Arbeiter und Jugendliche wiesen die anfänglichen Lügen des ND-Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis zurück, der alles auf das „tragische menschliche Versagen“ eines einzelnen Bahnhofsvorstehers in Larissa schieben wollte.

Die WSWS schrieb damals: „Die Teilnehmer an den Protesten wissen, dass die tödliche Katastrophe nicht als Unfall abgetan werden kann und dass sie nicht von einem einzelnen Bahnhofsvorsteher zu verantworten ist, wie es die Regierung unter der rechten Nea-Dimokratia (ND) behauptet hat. Es handelt sich um ein Verbrechen, dessen Ursache ein erschreckend unsicheres Eisenbahnnetz ist, entstanden durch jahrelange Kürzungen und die Privatisierung im Jahr 2017.“

Das Ausmaß der jüngsten Proteste schockierte die Regierung und ihre Medien. Der griechische Staatssender ERT weigerte sich zunächst, auch nur über die Demonstration in Athen zu berichten. Journalisten, Techniker und andere Mitarbeiter des Senders reagierten empört auf diese Entscheidung.

Sie posteten ein Foto, das einen Teil der riesigen Menschenmenge in Athen zeigt (siehe X-Post unten), und kommentierten: „Die massiven Demonstrationen gegen das Verbrechen in Tempi im ganzen Land und im Ausland wurden von ERT auf extreme Weise heruntergespielt. In der Nachrichtensendung um 12 Uhr mittags, als die größte Demonstration der letzten Jahre im Zentrum von Athen in vollem Gange war, wurde das Thema erst 37 Minuten nach Beginn der Sendung kurz und ohne ein einziges Bild vom Syntagma-Platz präsentiert.“

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Da die ND-Regierung niemanden strafrechtlich verfolgte und nicht einmal einen Prozess einleitete, ergriffen Angehörige die Initiative und beauftragten einen Sachverständigenausschuss zur Untersuchung des Zugunfalls. Sie stellten auch die Audiodateien zusammen, die der Kanal Kontra ausstrahlte.

Der Ausschuss kam zu dem Schluss, dass der Tod von 30 Fahrgästen, also der Mehrheit, nach der Kollision mit dem Güterzug eintrat und mit der Explosion zusammenhing, die durch große Mengen brennbarer Flüssigkeiten verursacht wurde – und nicht durch Silikonöl aus den Transformatoren des Personenzugs, wie die Regierung zuvor behauptet hatte.

Maria Karystianou, Vertreterin der Vereinigung der Angehörigen der Tempi-Opfer, deren Tochter bei dem Unfall ums Leben kam, rief zu den Kundgebungen auf: „Wir fordern eine sofortige Untersuchung der Explosion der illegalen chemischen Ladung und des Feuers, das unsere Angehörigen bei lebendigem Leib verbrannt hat.“

Von Anfang an hat die Angehörigengruppe versucht, die Vertuschung und Verzögerung der Justiz durch die Regierung aufzudecken. Im März letzten Jahres sprach Karystianou bei einer Sitzung des Petitionsausschusses des Europäischen Parlaments (PETI), nachdem sie eine von 1,3 Millionen Menschen unterzeichnete Petition vorgelegt hatte, in der die Aufhebung des Schutzes griechischer Minister und Abgeordneter vor Strafverfolgung gefordert wurde.

Karystianou nahm kein Blatt vor den Mund:

In den ersten 24 Stunden nach dem tödlichen Zusammenstoß wurde von der Regierung eine Vertuschung angeordnet, für die bis heute niemand die Verantwortung übernommen hat, auch wenn dies öffentlich eingeräumt wurde.

Bei der Kollision verursachten brennbare und illegale Stoffe eine gewaltige Explosion, bei der die meisten verbrannten. Diese Ladung war nicht einmal deklariert. Innerhalb von fünf Tagen haben sie die Trümmer weggeschafft und das Gebiet vollständig aufgeschüttet. Entscheidende Beweise für die Schuld gingen verloren. Heute sind wir und die gesamte griechische Bevölkerung von der Vertuschung überzeugt.

Die herrschende Klasse in Griechenland ist sich der Gefahr bewusst, die von den wiederauflebenden Protesten ausgeht. Sie weiß, dass diese nicht nur durch Tempi motiviert sind, sondern durch alles, wofür Tempi steht: die ständige Aushöhlung des Lebensstandards von Millionen Arbeitern, die Ausplünderung der Gesellschaft durch Konzerne und Reiche, die hoffnungslose Zukunft, die die Kapitalistenklasse der Jugend bietet. Die Proteste sind Teil eines Aufschwungs von Klassenkämpfen in Griechenland. Vor zwei Monaten fand ein Generalstreik für höhere Löhne und das Ende der Sparmaßnahmen statt.

Die konservative Kathimerini, die nicht länger wegschauen konnte, warnte: „Die beeindruckenden Kundgebungen in Athen, Thessaloniki und Dutzenden anderen Städten in Griechenland und im Ausland am Sonntag erinnerten an die großen Proteste zu Beginn der Schuldenkrise und offenbarten eine gesellschaftliche Stimmung, die das politische System nicht ignorieren kann.“

Die pseudolinke Oppositionspartei Syriza hat versucht, aus dem Tempi-Unglück politisches Kapital zu schlagen, weil es unter der Regierung von Nea Dimokratia stattfand. Mehrere führende Syriza-Vertreter waren bei den Demonstrationen anwesend.

In einem Gespräch mit dem Radiosender Skai sagte Sokratis Famellos, der Vorsitzende von Syriza: „Die griechische Gesellschaft versteht, dass Mitsotakis versucht, die Verantwortung für das Verbrechen in Tempi zu vertuschen.“ Syriza reagiere auf das soziale Bedürfnis, indem sie „sich mit allen progressiven Parteien gegen den Vertuschungsplan absprechen will“.

Sokratis Famellos im Jahr 2023 [Photo by Σωκράτης Φάμελλος / CC BY 3.0]

Das Zugunglück ereignete sich zwar nach dem Amtsantritt der ND, die Syriza bei den Parlamentswahlen 2019 besiegt hatte, aber Syriza ist genauso mitverantwortlich. Tempi war das Ergebnis der Politik unter dem ehemaligen Syriza-Vorsitzenden Alexis Tsipras, der von 2015 bis 2019 eine in Europa beispiellose Sparpolitik gegen die Arbeiterklasse anführte.

In dem Artikel „Syrizas Verantwortung für das tödliche Zugunglück in Tempi“ erklärt die WSWS: „Im Rahmen der Privatisierungsorgie während ihrer Amtszeit war Syriza für den Verkauf der griechischen Staatsbahn TrainOSE an den italienischen Eisenbahnbetreiber Ferrovie Dello Stato Italiane (FSI) zu einem Spottpreis von 45 Millionen Euro verantwortlich. Durch die Privatisierung wurde das gesamte Eisenbahnsystem unsicher, da sich die Eisenbahner auf veraltete Technik verlassen mussten, z. B. auf manuelle Signalsysteme.“

Einer der wichtigsten Slogans der Tempi-Bewegung, der auf jeder Demonstration gerufen wird, lautet „Ihre Profite, unser Leben“ – ein direkter Verweis auf das Vermögen, das durch den Ausverkauf bei der Bahn erzielt wurde, den Tsipras als glorreiche Erfolgsgeschichte bezeichnet hat.

Zweifellos wird noch mehr über die verhängnisvolle Rolle von Syriza und der derzeitigen Regierung ans Licht kommen.

Im Rahmen ihrer Vertuschungspolitik lehnte die ND eine Aufforderung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO) ab, im Hinblick auf die mögliche strafrechtliche Verantwortung zweier ehemaliger Verkehrsminister nach dem Zugunglück tätig zu werden.

Laut einem Bericht von Politico im Januar letzten Jahres hat die EPPO-Anklägerin Popi Papandreou in einem Schreiben an die griechische Regierung im Juni 2023 festgestellt, dass während der Untersuchung des Unglücks „Verdachtsmomente in Bezug auf mutmaßliche Straftaten ehemaliger Mitglieder der griechischen Regierung aufgetaucht sind. Diese mutmaßlichen Straftaten betreffen die Pflichtverletzung des ehemaligen Ministers [unter Syriza] Christos Spirtzis und die Veruntreuung durch den ehemaligen [ND-]Minister Konstantinos Karamanlis.“

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