Die documenta und Museum Fridericianum gGmbH veranstaltet seit 1955 alle fünf Jahre in Kassel die gleichnamige, weltweit bedeutendste Ausstellung internationaler zeitgenössischer Kunst. Die documenta 15, die 2022 stattfand, hatte endlose Debatten und eine üble Hetzkampagne gegen den angeblichen Antisemitismus etlicher Kunstwerke ausgelöst, die das indonesische Kuratorenteam ruangrupa ausgewählt hatte.
Politiker überboten sich seither mit Forderungen nach politischer Zensur über Kunst und Kultur oder verlangten gar das Aus der documenta. Ganz besonders seit dem 7. Oktober 2023 werden von Politik und Medien künstlerische Äußerungen und kulturpolitische Maßnahmen dahingehend geprüft, ob sie Kritik am Völkermord der israelischen Regierung an den Palästinensern in Gaza durchschimmern lassen und somit der deutschen „Staatsräson“ widersprechen.
Am 10. Februar hat die documenta auf ihrer Website einen Code of Conduct veröffentlicht, der sich zur „Verpflichtung und Verantwortung zur Gewährleistung von Schutz gegen Antisemitismus, Rassismus und jedweder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ bekennt. Der Code verpflichtet Organisatoren und Mitarbeiter der documenta unter Androhung von Konsequenzen, sich an die zionistische Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu halten, der zufolge Kritik an der Politik der israelischen Regierung als Antisemitismus zu werten ist. „Verstöße gegen diese Regeln wird die documenta mit den einschlägigen disziplinar- und arbeitsrechtlichen Instrumenten verfolgen“, heißt es im Code.
Dieser Code war von der Managementberatung für Kultureinrichtungen Metrum ausgearbeitet worden und soll dem angeblichen Antisemitismus von Organisatoren und Mitarbeitern einen Riegel vorschieben. Der Code sollte ursprünglich auch für die künstlerische Leitung (Kuratoren) und damit indirekt auch für die in künftigen Ausstellungen ausgestellten Künstler und ihre Werke gelten. Gegen diesen allzu offensichtlichen Angriff auf die Kunst- und Meinungsfreiheit erhob sich aber Widerspruch.
Künstler und Künstlerinnen befürchteten zu Recht eine Einschränkung der künstlerischen Freiheit. Auch die Initiative „Stand With Documenta“ hatte eindringlich vor politischer Einflussnahme gewarnt und sich mit einer Petition gegen diese Art der Codes of Conduct gewandt.
Der Code beteuert zwar in hehren Worten, dass die documenta die „Achtung und Wahrung menschlicher Würde als fundamentale Grundlage zivilisierten Lebens in Freiheit und Selbstbestimmung“ sicherstellen will. Er verspricht auch, die Freiheit der Kunst und die Menschenwürde zu achten. Aber dieser Code ist ein vergiftetes Dokument. Genau betrachtet, handelt es sich um nichts anderes als eine kaum verschleierte Form von Zensur.
Der Kunstwissenschaftler Hans Kimpel, Experte und Autor eines Standardwerks über die documenta, machte in der Frankfurter Rundschau auf Grund der seiner Meinung nach „vermurksten“ und „desolaten Situation“ den Vorschlag, einen Schlusspunkt hinter der 15. documenta zu setzen und keine weitere mehr folgen zu lassen.
Dieser radikalen Schlussfolgerung widerspricht Ingo Arend im Kunstforum: „Die Kunstwelt hat kein besseres Forum, um sich des (Über-)Lebens auf diesem Planeten, in all seinen Facetten und Widersprüchen bewusst zu werden.“ Die documenta bringe die „geistige Situation der Zeit wie keine andere Großausstellung auf den Punkt“ und werde zum „Forum des Streits über Himmelsrichtungen und Ästhetiken, Infrastruktur und Arbeitsbedingungen der Kunst“. Es bleibe abzuwarten, ob der „Verzicht auf die Auferlegung eines ‚Code of Conduct‘ für die künstlerische Leitung deren Freiraum sichern wird“.
Der Code of Conduct ist ein Zensurkodex
Angesichts der bisherigen Erfahrungen ist klar, dass der jetzt angenommene Code ein massiver Angriff auf die Freiheit der Kunst ist. Was von diesem Dokument wirklich zu halten ist, muss vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Situation eingeschätzt werden.
Aktuell werden in vielen Ländern Kritiker am Völkermord an den Palästinensern reihenweise strafrechtlich als „Antisemiten“ verfolgt. In Deutschland haben SPD und Grüne im November 2024 gemeinsam mit CDU, FDP und AfD im Bundestag eine sogenannte Antisemitismus-Resolution verabschiedet, die ebenfalls die IHRA-Definition zu Grunde legt.
Die Resolution relativiert den Holocaust und hat nichts zu tun mit dem Kampf gegen tatsächlichen Antisemitismus oder dem Schutz jüdischen Lebens in Deutschland. Vielmehr zielt sie darauf ab, Israels Völkermord an den Palästinensern und die Unterstützung der israelischen Regierung zu rechtfertigen. Kritik daran wird unter dem falschen Vorwurf des „Antisemitismus“ kriminalisiert und unterdrückt.
Der neue Verhaltenskodex für die documenta ist in diesem Zusammenhang zu bewerten. Er bedeutet Zensur. Wenn der Code in seiner jetzt gültigen Fassung angeblich für die künstlerische Leitung (die Kuratoren) nicht gelten soll, ist das reine Augenwischerei. Aufsichtsrat und Organisatoren werden künftig den Teufel tun und sich Kuratoren einladen, die eine israelkritische Haltung zu erkennen geben oder sich irgendwann einmal eine derartige Kritik erlaubt haben. Mitarbeiter, die ein israelkritisches Werk aufhängen, das ein künstlerischer Leiter ausgesucht hat, könnten ihren Job verlieren.
Das hehre Versprechen, „die documenta gewährleistet die Kunstfreiheit und den für jede künstlerische Betätigung unabdingbaren freien, von Toleranz und Weltsicht geprägten Raum zum Ausdruck von Haltung und Meinung in allen erdenklichen Formensprachen“, ist angesichts des Codes of Conduct vollkommen hohl.
Wer eine Einladung zu kuratieren erhalten und akzeptiert hat, wird sich, wenn ihm oder ihr die Karriere lieb ist, an den Code halten. Pech hätte nur, wer ertappt wird, dass er sich in der Vergangenheit einmal, vielleicht in den sozialen Medien, gegen den Völkermord in Gaza ausgesprochen hat.
Ein Absatz im Code deutet schon darauf hin, dass es eine Art Vorzensur, und damit eine Einschränkungen der Kunstfreiheit, durchaus geben kann: „Die jeweilige künstlerische Leitung der documenta Ausstellung soll innerhalb von drei Monaten nach ihrer Wahl in einer öffentlichen Veranstaltung ihr kuratorisches Konzept vorstellen, über ihre Haltung zu aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet zeitgenössischer Kunst informieren und darlegen, wie sie die Achtung der Menschenwürde unter Wahrung der grundgesetzlich geschützten Kunstfreiheit auf der von ihr kuratierten Ausstellung gewährleisten will.“
An anderer Stelle heißt es, „die Freiheit künstlerischen Werkens und Wirkens im Rahmen der in Deutschland geltenden Gesetze“ sei zu gewährleisten.
Die obligatorische, frühzeitige Vorstellung des kuratorischen Konzepts wird erwartungsgemäß von Medien und Politik auseinandergenommen und mit der Lupe auf „Antisemitismus“ oder andere angebliche Verstöße gegen den Code untersucht werden.
Die Leitung der documenta behält sich außerdem vor, selbst gegen ausgestellte Werke Stellung zu beziehen. Dazu heißt es im Code of Conduct: „Soweit die Documenta künstlerische Äußerungsformen als im Konflikt stehend zu den in diesem Code of Conduct manifestierten Verhaltensgrundsätzen beurteilt, behält sie sich vor, ihre hieraus resultierende Haltung zu kommentieren und dies gegebenenfalls auch im unmittelbaren Wahrnehmungsbereich ausgestellter Kunstwerke durch Kontextualisierungen zum Ausdruck zu bringen.“
Damit will sich die Leitung der documenta offenbar dagegen absichern, dass es ein Künstler trotz der ganzen Vorgeschichte wagt, sich in seinen Werken kritisch zu äußern. Damit würde der Hetze durch Politik und Medien Tür und Tor geöffnet.
Kulturpolitik als Instrument der Kriegspolitik
Die offizielle deutsche Kulturpolitik hat sich in den letzten Jahren zu einem schamlosen Instrument der Kriegspolitik und der Rechtfertigung von Völkermord entwickelt. Dies war bereits an der Kampagne gegen die erste Findungskommission für die neue künstlerische Leitung für die nächste Ausstellung, die documenta 16 im Jahr 2027, deutlich geworden.
In der zweiten Novemberwoche 2023 inszenierten die Medien, angeführt von der Süddeutschen Zeitung, eine schrille Verleumdungskampagne gegen den namhaften indischen Autor und Kulturwissenschaftler Ranjit Hoskoté, der zu der sechsköpfigen Findungskommission gehörte. Hoskoté, der eine enge Verbindung zum Judentum hat, hatte einen pro-palästinensischen Ausruf unterschrieben, der sich gegen eine zionistische und reaktionäre hinduistische Veranstaltung in Indien richtete.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) stimmte in den Chor der Zensur-Rufer ein. Sie forderte eine Garantie, dass öffentliche Gelder nicht dazu missbraucht werden, antisemitische, rassistische und andere menschenverachtende Kunst- und Kulturprojekte zu finanzieren: „Eine finanzielle Beteiligung des Bundes wird es für die nächste Documenta nur geben, wenn es einen gemeinsamen Plan und sichtbare Reformschritte hin zu klaren Verantwortlichkeiten, einer echten Mitwirkungsmöglichkeit für den Bund und Standards zur Verhinderung von Antisemitismus und Diskriminierung gibt. Ich sehe hier noch keine Grundlage erreicht.“
Roth verlangte mehr Einflussmöglichkeiten für den Bund. Infolge der Kampagne trat die gesamte Findungskommission zurück und es dauerte Monate, bis eine neue zusammengestellt werden konnte, die Gnade vor den Medien und der Politik fand.
Im November 2024 folgte die Stadtverordnetenversammlung Kassel Roths Forderung und stimmte für die Erweiterung des Aufsichtsrates der documenta um zwei von Roths Vertretern sowie die vorsitzende Person des neu geschaffenen Wissenschaftlichen Beirats.
Auch dieser Wissenschaftliche Beirat soll absichern, dass die „künstlerische Freiheit“ in der Weltkunstausstellung nicht wieder aus den vorgegebenen Bahnen der „Staatsräson“ läuft. Die Wissenschaftler sollen die Leitung darüber beraten, was unter die vom Code of Conduct inkriminierten Kategorien fällt. Kurz gesagt, es handelt sich um einen durchsichtigen Versuch, die Knebelung der Kunst unter dem Label „Freiheit“ laufen zu lassen.
Die neue Findungskommission, bestehend aus Yilmaz Dziewior, Sergio Edelsztein, N'Goné Fall, Gridthiya Gaweewong, Mami Kataoka und Yasmil Raymond, hat im Juli 2024 eine neue künstlerische Leiterin für die documenta 16 gewählt. Yilmaz Dziewior sprach von einer nicht einfachen Entscheidung: „Unsere Diskussionen spiegelten die Komplexität und Verflechtung der aktuellen Situation der documenta wider.“
Als Kuratorin gewählt wurde Naomi Beckwith, die stellvertretende Direktorin und Chefkuratorin des New Yorker Guggenheim Museums. Der Aufsichtsrat der documenta mit seinem Vorsitzenden, dem Kasseler Oberbürgermeister Sven Schöller, begrüßte die Wahl und berief Beckwith. Die Wahl stieß bisher bei Medien und Politik nicht auf Kritik.
Die Auseinandersetzungen um die documenta 15 und die weiteren Angriffe auf die Kunstfreiheit haben in der internationalen Kunst und Kulturszene zu erheblicher Unruhe geführt. Schon jetzt gibt es unter Kunstschaffenden berechtigte Sorgen vor politischer Zensur und einer Beschränkung ihrer Schaffensmöglichkeiten in Deutschland.
Immerhin gab es bereits zahlreiche Fälle von Zensur und Anfeindungen, nicht zuletzt bei der letzten Berlinale, wo der Film des israelischen Regisseurs Yuval Abraham „No other land“ von deutschen Behörden und Medien als antisemitisch verunglimpft wurde. Auch gab es Rückzüge und Ablehnungen von internationalen Kunst- und Kulturschaffenden, sich in Deutschland zu engagieren oder hier aufzutreten.
Jüngst hat der Künstler Fareed Armaly den Käthe Kollwitz Preis der Akademie der Künste ausgeschlagen. Wie die Berliner Akademie der Künste mitteilte, begründete der Künstler die Absage mit einem „beunruhigenden Trend zur Zensur in Deutschland“.
Der Code of Conduct für die documenta mit seinen Knebelungen schränkt die Kunst- und Meinungsfreiheit in Deutschland weiter ein. Er legt der Kulturszene ein Zensurkorsett an und fördert Duckmäusertum und Selbstzensur. Auf Grund der großen Bedeutung der documenta ist außerdem anzunehmen, dass das Beispiel Schule macht.
Angesichts der Versuche der AfD, sich wie kürzlich mit einem Angriff auf das Bauhaus in Dessau zugunsten ihrer völkischen Ideologie in die Kulturpolitik einzumischen, spielt jede Einschränkung der Freiheit der Kunst den reaktionären Kräften in die Hände und muss entschieden zurückgewiesen werden.