Der Trotzkismus vor Gericht in der Ukraine

Staatsanwaltschaft trägt Klage gegen Bogdan Syrotjuk vor

Weitere Informationen zum Kampf für die Freilassung von Bogdan Syrotjuks und zur Arbeit der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten unter wsws.org/freebogdan.

Nach einigen Verschiebungen trägt an einem Gericht im südukrainischen Perwomajsk die Staatsanwaltschaft seit Januar ihre Klage gegen den Sozialisten Bogdan Syrotjuk vor. Syrotjuk wurde am 25. April 2024 vom ukrainischen Geheimdienst SBU verhaftet, der von Faschisten durchsetzt ist, und gemäß Artikel 111 Strafgesetzbuch wegen „Hochverrats unter Kriegsrecht“ angeklagt. Laut dem Haftbefehl war er an „der Vorbereitung von Publikationen“ beteiligt, die „von Vertretern der World Socialist Web Site, einer russischen Propaganda- und Informationsbehörde, in Auftrag gegeben wurden.“

Bogdan Syrotjuk Mitte April 2024

Die Verteidigung weist die Anklagepunkte zurück, die zu einer Haftstrafe von 15 Jahren bis lebenslänglich führen können. Syrotjuk sitzt seit seiner Verhaftung in einem Gefängnis in Nikolajew ein, obwohl er an gesundheitlichen Problemen leidet.

Das Gerichtsverfahren ist eindeutig politisch motiviert. Die Staatsanwaltschaft beruft sich auf neun dicke Aktenordner mit dokumentarischem Material. Größtenteils handelt es sich um politische und theoretische Texte, darunter Artikel und Erklärungen der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten gegen den Überfall des Putin-Regimes auf die Ukraine und Essays von David North, dem Leiter der World Socialist Web Site, über die Geschichte der trotzkistischen Bewegung.

Mit anderen Worten, Bogdan wird nicht wegen realer oder geplanter Handlungen angeklagt, sondern wegen seiner trotzkistischen Ansichten, die als „Gedankenverbrechen“ gelten. Das Verfahren des ukrainischen Staats gegen Bogdan erinnert an die Rechtsprechung der Nazis, angepasst an die Verhältnisse des 21. Jahrhunderts.

Die Staatsanwaltschaft folgt dem Drehbuch, das der ukrainische Staat für die Verfolgung von ideologischen Gegnern und politischen Kritikern zusammengestellt hat. Direkt nach dem Überfall des russischen Regimes nahm die ukrainische Regierung unter Selenskyj umfassende Änderungen an Artikel 111 (Hochverrat) des Strafgesetzbuches vor, um juristische Grundlagen für die gezielte Verfolgung von Regierungsgegnern zu schaffen. Der ukrainische Sozialist Maxim Goldarb erklärte dazu im Jahr 2023 in einem Artikel für die World Socialist Web Site:

Hierzu muss man wissen, dass die Definition des Verbrechens „Staatsverrat“ gemäß Artikel 111 des ukrainischen Strafgesetzbuchs sehr vage und abstrakt gehalten ist. Dadurch hat der Unterdrückungsapparat die Gelegenheit, jeden anzuklagen, auf den es der Präsident oder sein Team abgesehen haben.

Das Strafrecht erlaubt die Verhaftung eines Verdächtigen ohne Recht auf Kaution oder Freilassung. Genau das ist Bogdan widerfahren.

Seit seiner Verhaftung im April 2024 sitzt Bogdan in unbefristeter Haft. Alle Anträge der Verteidigung auf seine Freilassung, weil von ihm keine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht, wurden abgelehnt. Zuletzt verlängerte das Gericht am 17. Januar die Untersuchungshaft um weitere 60 Tage. Um die Ablehnung der Anträge der Verteidigung auf Bogdans Freilassung zu rechtfertigen, wiederholt das Gericht regelmäßig die Argumente des Geheimdiensts SBU.

Der „kriminelle“ Charakter von Bogdans Ideen und Ansichten soll vor Gericht von Sprachexperten bzw. „Linguistikexperten“ bewiesen werden, die von der Staatsanwaltschaft angefordert wurden. Dieses Verfahren ist in Fällen von angeblichem Hochverrat üblich. Um erneut Maxim Goldarb zu zitieren:

Doch um der völligen Gesetzlosigkeit zumindest den Anschein einer gewissen Legitimität zu verleihen, haben die Strafverfolgungsbehörden (SBU, DBR und Staatsanwaltschaft) gelernt, - Achtung! - „Expertengutachten“ über die Äußerungen und Kommentare einer Person in den sozialen Netzwerken einzuholen.

Zu diesem Zweck lassen die Strafverfolgungsbehörden einen Experten für Linguistik die Äußerungen eines Gegners der derzeitigen Regierung - egal ob in Form eines Social-Media-Posts, einer Rede im Fernsehen oder eines Zeitungsartikels - einer forensischen linguistischen Untersuchung unterziehen. Dabei geht es um folgende Fragen:

1) Beinhalten diese Worte irgendetwas Schlechtes über die Ukraine?

2) Deutet irgendetwas in diesen Worten an, dass die Person direkt oder indirekt den Feind unterstützt?

3) Besteht eine lose Beziehung zwischen diesen Worten und daraus entstehenden Folgen?

Und so geht es weiter. Erwartungsgemäß kann jedes Wort, jede Position und Äußerung als „schlecht“ eingestuft werden, weil der forensische Experte auf der Grundlage hochgradig relativer und subjektiver Auswertungen sowie subjektiver Wahrnehmung vorgeht. Und das Wichtigste in einem solchen Fall ist es, den „richtigen“ Experten zu finden, der die Worte des Opfers des Regimes „korrekt“ auswertet und das „notwendige“ Gutachten ausstellt.

Wo kommt dieser Experte her? Wie wird sein Bericht verfasst? Und hier wird es besonders interessant für diejenigen, die noch nicht erlebt haben, mit welchen Mitteln das derzeitige ukrainische System Abweichler verfolgt. Ein Teil des Expertengutachtens kann in staatlichen Instituten mit forensischer Expertise durchgeführt werden, in denen der Experte vom Direktor des Instituts einen Befehl erhält, den er erfüllt, indem er das Notwendige schreibt. Weil in der Ukraine Experten heute für nichts mehr verantwortlich sind, können sie schreiben, was sie wollen.

Daneben gibt es „ernannte“ Experten, denen das staatliche Strafverfolgungssystem geholfen hat, die für linguistische Untersuchungen notwendige Lizenz vom Justizministerium zu erhalten. Sie stehen auf der Gehaltsliste des staatlichen Strafverfolgungssystems und beziehen ein sehr ordentliches Gehalt; als Gegenleistung dafür liefern sie die vom System benötigte Expertise. Wenn man ein schlechtes Expertengutachten will, schreiben sie ein schlechtes, wenn man ein gutes will, schreiben sie ein gutes. Dann werden die Ergebnisse dieses Expertengutachtens als Grundlage für eine Anklage und die Einleitung eines Verfahrens benutzt. Zuerst wird die Person angeklagt, kommt auf eine Fahndungsliste, wird verhaftet, eingesperrt usw.

Genau diese Art von „linguistischer Expertise“ wurde bei der Anklage vor Gericht vorgelegt. Bogdans Verteidigung hat das Gericht aufgefordert, die „Untersuchungen“ dieser „Experten“ zurückzuweisen, weil sie keine Beweise für die angeblichen Verbrechen geliefert haben.

In Wirklichkeit hat Bogdan kein Verbrechen begangen, am allerwenigsten „Hochverrat“ und Aktivitäten im Auftrag des russischen Staates. Als führendes Mitglied der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL), die sich politisch mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale solidarisiert, hat er unermüdlich für die Einheit der russischen und ukrainischen Arbeiter gegen einen Krieg gekämpft, der Hunderttausende von Menschenleben gefordert hat. In seinen Artikeln schilderte er eindringlich die Verbrechen der Bandera-Faschisten gegen die ukrainische Bevölkerung und ihre Verherrlichung durch die heutigen Kriegsunterstützer.

Die Erklärungen der YGBL und des IKVI verurteilten den russischen Überfall auf die Ukraine vom Standpunkt des sozialistischen Internationalismus. Sie widerlegen auf der ganzen Linie den Vorwurf der „Kollaboration“ mit dem russischen Staat. In jedem auch nur dem Namen nach demokratischen juristischen Verfahren würden diese Erklärungen die Grundlage für Bogdans Verteidigung gegen die Vorwürfe bilden. Dass diese und andere Erklärungen des IKVI und der WSWS stattdessen die Grundlage für die Anklage bilden, unterstreicht, dass Bogdan in Wirklichkeit wegen seines Kampfs für den Trotzkismus vor Gericht steht.

Zweifellos wurde sein Fall nicht nur vom SBU diskutiert und geplant, sondern auch von dessen Geldgebern und militärischen Hintermännern in den USA und anderen Nato-Staaten, vor allem Deutschland. Genau wie die ukrainische Oligarchie betrachtet auch die herrschende Klasse in den imperialistischen Zentren den aufkommenden Widerstand gegen den Krieg und die Hinwendung von Teilen der Arbeiter und Jugendlichen zum Trotzkismus als existenzielle Bedrohung für ihre Klasseninteressen.

Allein deshalb verdient Bogdans Fall die größte Aufmerksamkeit klassenbewusster Arbeiter und Jugendlicher auf der ganzen Welt. Es ist jedoch nicht der einzige Grund. Bogdans Fall ist der klarste politische Ausdruck der Kriminalisierung jedes Widerstands gegen Krieg und der freien Meinungsäußerung in der Ukraine. Im März 2024, also kurz vor Bogdans Verhaftung, gab es in der Ukraine laut den Vereinten Nationen etwa 55.000 politische Gefangene, die vom SBU als „Kollaborateure“ verfolgt wurden. Diese Zahl ist im weiteren Verlauf des letzten Jahres zweifellos stark angestiegen. Erst vor zwei Wochen, Ende Januar, führte der SBU in mehreren Städten umfangreiche Razzien durch, bei denen Dutzende von Arbeitern und Jugendlichen verhaftet wurden, weil sie marxistische Literatur gelesen und Widerstand gegen die Zwangseinberufung in die Armee geleistet hatten.

Was heute in der Ukraine geschieht, wird morgen in den USA oder den europäischen Ländern geschehen, wenn kein Widerstand geleistet wird. Daher rufen wir alle auf, den Kampf für Bogdans Freiheit zur Speerspitze des Kampfs zur Verteidigung demokratischer Rechte zu machen und gegen den imperialistischen Krieg Stellung zu beziehen. Unterzeichnet und verbreitet die Petition zur Freilassung von Bogdan! Schickt der WSWS eine Erklärung, in der ihr seine Verfolgung verurteilt! Lest seine Schriften und die Erklärungen der YGBL und des IKVI zum Krieg in der Ukraine!

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