In diesen Tagen gedenken zehntausende Menschen in über 100 Städten der Mordnacht vor fünf Jahren, am 19. Februar 2020. Damals hatte der Rassist Tobias Rathjen neun junge Menschen aus seiner Nachbarschaft wahllos erschossen.
SayTheirNames – unter diesem Slogan wird seither das Andenken an Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Păun, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi wachgehalten.
Am fünften Jahrestag des terroristischen Anschlags ziehen die Angehörigen eine bittere Bilanz. Schon im Februar 2021, ein Jahr nach dem neunfachen Mord, lag die Kette des Versagens von Polizei und Behörden offen zutage: Ein Polizeinotruf, der in der Tatnacht nicht erreichbar war, ein verschlossener Notausgang, ein Täter, der trotz bekannter Psychose legal mehrere Waffen besitzen konnte … zu all dem kam die offene Missachtung der Angehörigen durch die Behörden hinzu, die sie von den Opfern isolierten und ihnen erst Tage später erlaubten, ihre getöteten Liebsten wiederzusehen, nachdem man diese, ohne die Familien zu fragen, einer Autopsie unterzogen hatte.
Der fünfte Jahrestag fällt kurz vor der Bundestagswahl in eine Situation, in der die Parteien im Wahlkampf eine beispiellose Hetze gegen Geflüchtete und Migranten entfesseln, obwohl hunderttausende in ganz Deutschland gegen Rechtsruck und AfD auf die Straße gehen.
In den USA ist Trump mit einem beispiellos ausländerfeindlichen Programm an die Macht gelangt, und hier in Deutschland überbieten sich die Spitzenpolitiker in allgemeiner Kriegshetze, Aufrüstungsforderungen und „Abschieben im großen Stil“ (Scholz).
Am Wochenende ergingen sich die die Kanzlerkandidaten im sogenannten „Quadrell“ in übler Flüchtlingshetze im Stile der AfD. Und auch auf Landesebene brüsten sich Grüne, SPD- und CDU-Politiker in NRW, Niedersachsen und anderswo damit, dass sie Abschiebungen nun auch nach Afghanistan organisieren. Politikerreden gegen Muslime und Menschen mit Migrationshintergrund haben Hochkonjunktur.
In diesem aufgeheizten Klima ist es kein Wunder, dass die rechte Gewalt auf einem neuen Höchststand ist und die rechtsextremistischen Straftaten regelrecht explodieren. Es ist die direkte Konsequenz aus der rechten Hetze von oben. Darüber können auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) und der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) nicht hinwegtäuschen, die am 19. Februar in Hanau auf dem Marktplatz zynisch ihre Krokodilstränen vergossen.
Für die Angehörigen der am 19. Februar 2020 Erschossenen ist dies schier unerträglich. Sie haben auf ihrer eigenen Feier schon am Samstag, den 15. Februar gesprochen und nüchtern und angesichts der offiziellen Heuchelei auch ernüchtert Bilanz gezogen. Mit Blick auf den Wahlausgang am nächsten Sonntag sagte Çetin Gültekin, Bruder des ermordeten Gökhan Gültekin.
Wir wissen alle: Die nächsten Jahre werden schwer. Rassistische Hetze erscheint mir mehr denn je als Normalität. Wenn wir auf die fünf Jahre zurückblicken, müssen wir ehrlich sagen: Wir haben es gesamtgesellschaftlich nicht geschafft, Rassismus und Rechtsruck zurückzudrängen.
In den letzten fünf Jahren hatten die Angehörigen und ihre Unterstützer hunderte Kundgebungen, Demonstrationen, Veranstaltungen, Mahnwachen und Initiativen unternommen und angeregt. Ihr Motto: „Erinnern heißt verändern“, blieb jedoch bisher unerfüllt. Ihre Fragen wurden nicht beantwortet.
So hatte auch Forensic Architecture den Tatort der Arena Bar rekonstruiert, um den Hergang und die Auswirkungen des vermutlich auf Initiative der lokalen Polizei verschlossenen Notausgangs aufzuklären, und klargestellt, dass mehrere Opfer noch leben könnten, wenn diese Tür offen gewesen wäre.
Erst vor kurzem hat auch Niculescu Păun, der Vater des ermordeten Vili Viorel Păun, erneut Anzeige gegen hohe hessische Polizeibeamte erstattet. Der Grund: Als Vili Viorel, ein Kurierfahrer, in der Tatnacht mehrmals versuchte, die Polizei zu alarmieren, hatte der Notruf in Hanau nicht funktioniert. Während Vili Viorel den Täter auf der Fahrt zum zweiten Tatort in Hanau-Kesselstadt verfolgte, wählte er den Polizeiruf mehrmals ohne Erfolg. Kurz darauf wurde er selbst in seinem Auto erschossen.
Die Verantwortlichen bei der Polizei und in der hessischen Regierung wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, sondern im Gegenteil noch in höhere Positionen hochgelobt. Bis heute gibt es keine behördlichen Konsequenzen aus dem Anschlag. „Nichts, gar nichts konnten wir auf dieser Ebene erreichen. Alle Strafverfahren wurden in kürzester Zeit eingestellt“, so die bittere Bilanz von Gökhans Bruder Çetin Gültekin (der auch Autor des Buchs „Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland“ ist).
Es war der Initiative der Hinterbliebenen zu verdanken, dass sich ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag mit dem Anschlag befassen musste. Der Ausschuss konstatierte „Versäumnisse, Pannen und Fehler“ – aber die Verantwortlichen wurden befördert. Dazu sagte Newroz Duman von der Initiative 19. Februar dem Hessischen Rundfunk:
Es ist frustrierend. Dieses Gefühl von: Es ist doch alles bewiesen, es ist doch alles da. Ihr habt es doch im Untersuchungsausschuss Schwarz auf Weiß gesehen. Wieso passiert denn nichts? (…) Recht und Gerechtigkeit sind in diesem Land nicht dasselbe.
Auf der Hanauer Gedenkfeier vom Samstag sagte Çetin Gültekin weiter:
Wir wollen und müssen uns aber auch fragen, was wir in diesen fünf Jahren erreicht haben, und was nicht (…) Die AfD hat am 19. Februar 2020 mitgeschossen; der Täter war von den Rassisten der AfD beeinflusst und aufgehetzt. Das haben wir nach dem Anschlag immer wieder und wieder betont. 2021 stand die AfD auf Bundesebene bei ca. 10 Prozent. Keine vier Jahre später, jetzt am 23. Februar 2025, wird diese rechtsextreme Partei aller Wahrscheinlichkeit nach mit über 20 Prozent in den Bundestag einziehen. Wie kann das sein?
Er wies darauf hin, dass CDU und FDP im Bundestag mit der AfD gemeinsame Sache gemacht und für „noch härtere Maßnahmen gegen Geflüchtete und Zuwanderer“ gestimmt hatten. Tatsächlich haben alle Parteien, auch SPD und Grüne, diese Politik durchgesetzt und damit die Faschisten gestärkt. Çetin Gültekin warnte, fünf Jahre nach Hanau „sind Rechtsextreme und Rassisten nicht nur in den USA, in Italien oder Ungarn, sondern auch in Deutschland weiter auf dem Vormarsch. Ich frage mich: Wie ist das möglich? Was haben wir falsch gemacht?“
Said Etris Hashemi, der Bruder des am 19. Januar erschossenen Said Nesar Hashemi, sagte dem Hessischen Rundfunk: „Es hat sich in den letzten fünf Jahren viel getan, aber gleichzeitig hat sich auch wenig getan.“ Said Etris war selbst schwer verwundet worden und überlebte den Anschlag nur knapp.
In seinem Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ beschrieb Said Etris Hashemi lebendig die Atmosphäre, die in der Arbeitervorstadt Hanau-Kesselstadt, in der er aufwuchs, vorherrschte, in dem „jeder Block (…) eine eigene kleine Arche Noah“ war, die „alle möglichen Nationen beherbergte“, und er schlussfolgerte: „[W]as uns einte, war unsere Armut, ob im ‚Kackhaus‘ [einem braungestrichenen Block mit hauptsächlich deutschen Bewohnern] oder im Afghanerblock. Und vielleicht war es eher die Armut, die Kesselstadt zum Hotspot und Feindbild der Behörden machte, nicht die Tatsache, dass wir ‚Ausländer‘ waren.“
Viele in Hanau betonten, dass es ihnen nicht allein um ihre Angehörigen gehe, sondern genauso um die Opfer von Mölln, Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Dessau, Köln, Duisburg, Dortmund, Celle, Kleve, Kassel, Halle, München und anderswo. Emiş Gürbüz, die an der Gedenkfeier über ihren Sohn Sedat Gürbüz sprach, einen der am 19. Februar 2020 kaltblütig Ermordeten, berichtete, dass Sedat selbst die Menschen „nie nach Nationalitäten sortiert [hat]. Er hat immer gesagt: ‚Die sind alle meine Brüder‘.“