Die bevorstehenden Bundestagswahlen am Sonntag markieren einen entscheidenden Wendepunkt in der deutschen und europäischen Nachkriegsgeschichte. Zum ersten Mal seit dem Untergang des Dritten Reichs vor 80 Jahren besteht die reale Möglichkeit, dass eine Partei mit direkter ideologischer Kontinuität zum Nationalsozialismus in die Regierung eintritt.
Laut den jüngsten Umfragen liegt die AfD mit 21 Prozent an zweiter Stelle hinter der CDU/CSU mit etwa 28 Prozent. Die aktuelle Kanzlerpartei SPD fällt mit 16 Prozent auf einen historischen Tiefstand, während die Grünen bei 14 und Die Linke bei 8 Prozent liegen. Das BSW und die FDP drohen mit jeweils etwa 4,5 Prozent den Einzug in den Bundestag zu verfehlen.
Auch wenn die AfD nicht Teil der nächsten Bundesregierung wird, zeigt ihr Aufstieg den umfassenden politischen Rechtsruck des gesamten politischen Establishments. Im Wahlkampf überboten sich alle Bundestagsparteien in Flüchtlingshetze, Rufen nach mehr deutscher und europäischer Aufrüstung und Anbiederung an die AfD – einer Partei, die „Hitler und die Nazis“, in den Worten ihres Ehrenvorsitzen Alexander Gauland, als „Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ bezeichnet.
Gegen diese Entwicklung wächst unter Arbeitern und Jugendlichen der Widerstand. Im Wahlkampf gingen in ganz Deutschland mehrfach Hunderttausende gegen die AfD und den Rechtsruck aller Bundestagsparteien auf die Straße. In den Tagen vor der Wahl beteiligten sich zehntausende Arbeiter im Öffentlichen Dienst an landesweiten Warnstreiks, um ein Zeichen gegen massive Angriffe auf Arbeiterplätze und Löhne zu setzen.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP), die deutsche Sektion des Internationalen Komitees der Vierten International gibt dieser Opposition eine Stimme und eine historische und politische Perspektive. Der Kampf gegen die Rückkehr des deutschen Militarismus und Faschismus und die damit einhergehende soziale Verwüstung erfordert vor allem ein klares Verständnis seiner Ursachen.
Die Tatsache, dass die AfD zur zweitstärksten, aber schon jetzt politisch einflussreichsten politischen Kraft in Deutschland aufsteigen konnte, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis langjähriger politischer Entwicklungen. Dies geschieht nur 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, die von der offiziellen Propaganda als Triumph der Demokratie gefeiert wurde. Doch statt die „Demokratie“ zu stärken oder in den Worten des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU), die ostdeutschen Bundesländer in „blühende Landschaften“ zu verwandeln, hat die Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen DDR die ökonomischen und sozialen Grundlagen für breite Bevölkerungsschichten zerstört.
Die Verwüstung der ostdeutschen Wirtschaft und die damit einhergehende Verelendung und Perspektivlosigkeit haben den Nährboden für die Faschisten geschaffen. Insbesondere da die Nachfolgeparteien der stalinistischen SED, PDS und Linkspartei, und die SPD keinerlei fortschrittliche Alternative boten, sondern die sozialen Angriffe organisiert und in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gegen den Widerstand der Arbeiter durchgesetzt haben.
In den letzten Jahren haben sich dann alle etablierten Parteien und die Medien aktiv an der Förderung der AfD beteiligt und vor allem in der Flüchtlingspolitik das Programm der Faschisten übernommen. Der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz hat mitten im Wahlkampf gemeinsam mit der AfD eine Mehrheit im Bundestag organisiert, um die Asylpolitik weiter zu verschärfen und damit unterstrichen, dass er bereit ist, mit den Faschisten zu regieren. Während auch Teile der FDP und das BSW mit den Faschisten stimmten, attackierten SPD und Grüne Merz dafür, nicht schon jetzt gemeinsam mit ihnen die Flüchtlingspolitik der Rechtsextremen in die Tat umzusetzen.
Anders als Hitlers NSDAP in den 1930er Jahren hat die AfD keine faschistische Massenbasis. Viele Arbeiter vor allem in Ostdeutschland wählen sie, weil sie die etablierten Parteien hassen und von ihrer arbeiterfeindlichen Politik abgestoßen sind. Die Regierungsparteien trommeln so aggressiv für Aufrüstung und Krieg, dass sogar eine durch und durch militaristische Partei wie die AfD, die Antikriegsstimmung in der Bevölkerung bis zu einem gewissen Grad ausschlachten kann, weil sie den Nato-Krieg gegen Russland kritisiert.
Diese Entwicklungen erschüttern einen grundlegenden Mythos der deutschen Nachkriegsgeschichte: dass der Faschismus eine historische Anomalie war, eine bloße Verirrung unter den extremen Bedingungen der Wirtschaftskrise am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Doch die Realität zeigt, dass die Hinwendung der herrschenden Klasse zum Faschismus die Reaktion der herrschenden Klasse auf die tiefe Krise des Kapitalismus ist.
Ähnlich wie die herrschende Klasse in den USA auf Trump setzen auch die deutschen Eliten, wie in den 1930er Jahren, wieder auf faschistische Kräfte, um ihr Programm von Aufrüstung, Sozialkahlschlag und Diktatur gegen die Bevölkerung durchzusetzen. In ihrem Wahlaufruf zu den Bundestagswahlen erklärt die Sozialistische Gleichheitspartei:
Donald Trump, ein vorbestrafter Immobilienhai und Spielcasinobetreiber, verfolgt eine Politik der wirtschaftlichen Erpressung, der militärischen Eroberung und der gewaltsamen Unterdrückung. Er droht nicht nur China und anderen wirtschaftlichen Rivalen mit Strafzöllen und militärischer Gewalt, sondern auch den bisherigen Verbündeten der USA. Mit der Verhaftung und Deportation von Millionen Migranten bereitet er die Unterdrückung jeder sozialen und politischen Opposition innerhalb des eigenen Landes und die Errichtung einer Diktatur vor.
Die herrschende Klasse Deutschlands geht denselben Weg. Ihre Antwort auf „Make America Great Again“ lautet „Deutschland über alles“. Sie reagiert auf Trump, indem sie aufrüstet wie seit Hitler nicht mehr. Darüber sind sich alle im Bundestag vertretenen Parteien einig. Im Krieg gegen Russland sind sie bereit, einen Atomkrieg zu riskieren. In Gaza unterstützen sie einen Völkermord. Sie haben die Bundestagswahl vorgezogen, weil sie eine Regierung brauchen, die die Kriegspolitik und den damit verbundenen sozialen Kahlschlag konsequenter umsetzen kann als die diskreditierte Ampel.
Das offene Aufbrechen der transatlantischen Beziehungen auf der Münchner Sicherheitskonferenz und die jüngsten US-Drohungen, Europa bei der Plünderung der Ukraine zu übergehen und direkt mit Putin zu verhandeln, treiben diese Entwicklung auf die Spitze. Die herrschende Klasse in Deutschland reagiert darauf mit einem regelrechten Aufrüstungs- und Kriegstaumel.
Der amtierende sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz brüstet sich im Wahlkampf regelmäßig damit, als Kanzler der „Zeitenwende“, die Militärausgaben bereits mehr als verdoppelt zu haben. Besonders aggressiv gebärdet sich der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck, der bereits zuvor eine Verdreifachung der regulären Militärausgaben auf 3,5 Prozent des BIP (knapp 150 Milliarden Euro) gefordert hatte. „Deutschland, die nächste Bundesregierung, egal, wer sie besetzt, muss sich in den Dienst der europäischen Stärke stellen, damit wir standhalten“, mahnte er.
Einen Eindruck davon, was das bedeutet, gibt das Kiel Institut für Weltwirtschaft, das bereits im Dritten Reich Analysen für die Hochrüstung der Wehrmacht erstellte. Ein Papier mit dem Titel „Defending Europe Without the US: First Estimates of What is Needed“ (Europa ohne die USA verteidigen: Erste Schätzungen des Bedarfs), das bezeichnenderweise kurz vor dem Wahltag erschien, rechnet vor: Um die Fähigkeitslücken zu schließen, die die USA hinterlassen könnten, müssten die Europäer rund 50 zusätzliche Brigaden aufstellen. Unmittelbar notwendig hierfür seien mindestens 1400 neue Kampfpanzer und 2000 Schützenpanzer, eine Zahl, die höher ist als die derzeitigen Bestände der gesamten deutschen, französischen, italienischen und britischen Armeen. Zudem müsste allein die Bundeswehr in die Lage versetzt werden 100.000 Kampftruppen für die Nato in einer potentiellen Konfrontation mit Russland zu mobilisieren.
Merz, der wie Habeck bereits angekündigt hat, als Kanzler auch weitreichende Taurus-Marschflugkörper an Kiew zu liefern, die Moskau erreichen können, ließ keinen Zweifel daran, dass sich der deutsche Imperialismus wieder auf Krieg gegen Russland vorbereitet. Man könne „fest davon ausgehen“, dass Putin „nicht davor zurückschrecken“ werde, „die Grenzen noch weiter zu überschreiten“. Er habe „Nato-Gebiet im Blick. Und darauf müssen wir vorbereitet sein“, warnte er in einer der letzten Fernsehdebatten vor der Wahl.
Das stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Tatsächlich ist es die herrschende Klasse in Deutschland, die trotz ihrer barbarischen Verbrechen im 20. Jahrhundert wieder die „Grenzen überschreitet“, nach Osten drängt und dabei an ihre dunkelsten Traditionen anknüpft.
Die Sozialistische Gleichheitspartei war die einzige Partei, die diese Entwicklungen von Anfang an vorausgesagt und bekämpft hat. Seit 2014 hat sie systematisch vor der Rückkehr des deutschen Militarismus und der damit verbundenen Stärkung der Faschisten gewarnt.
Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) als damaliger Außenminister auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärte, Deutschland sei „zu groß und wirtschaftlich zu stark, als dass wir die Weltpolitik nur von der Seitenlinie kommentieren könnten“ und die Bundesregierung anschließend den anti-russischen Putsch in der Ukraine unterstütze – schrieben wir in einer Resolution:
Die Geschichte meldet sich stürmisch zurück. Knapp 70 Jahre nach den Verbrechen der Nazis und der Niederlage im Zweiten Weltkrieg knüpft die herrschende Klasse Deutschlands wieder an die imperialistische Großmachtpolitik des Kaiserreichs und Hitlers an. Das Tempo, mit der die Kriegshetze gegen Russland eskaliert, erinnert an den Vorabend des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. In der Ukraine arbeitet die Bundesregierung mit den Faschisten von Swoboda und dem Rechten Sektor zusammen, die in der Tradition von Nazi-Kollaborateuren aus dem Zweiten Weltkrieg stehen. Sie benutzt das Land, das sie in beiden Weltkriegen besetzt hatte, um erneut gegen Russland vorzugehen.
Die Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven imperialistischen Außenpolitik ging von Anfang an mit der Verharmlosung der Nazi-Verbrechen einher. Ebenfalls 2014 erklärte der rechtsextreme Humboldt-Professor Jörg Baberowski im Spiegel : „Hitler war kein Psychopath, er war nicht grausam. Er wollte nicht, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung geredet wird.“ Im gleichen Atemzug verglich er den Holocaust und Erschießungen im russischen Bürgerkrieg mit den Worten: „Im Grunde war es das Gleiche: industrielle Tötung.“
Baberowski wurde von Vertretern sämtlicher Parteien verteidigt und die Regierung reagierte auf den Kampf der SGP gegen die Rehabilitierung des Nationalsozialismus mit deren Kriminalisierung. Sie stellte die SGP unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz, der selbst von rechtsextremen Kräften durchsetzt ist. Für den deutschen Staat und seine Eliten steht der Feind auch im 21. Jahrhundert links.
Die Bundestagswahl 2025 markiert einen Wendepunkt und dient gleichzeitig als Warnung. Jeder in Deutschland weiß, was Weltkrieg und Faschismus bedeuten. Mahnmale an die barbarischen Verbrechen der Nazis – darunter der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, der über 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete und die industrielle Vernichtung von sechs Millionen Juden im Holocaust – sind allgegenwärtig. Wenn die herrschende Klasse die Großmacht- und Kriegspolitik wiederbelebt, die diese Verbrechen hervorgebracht hat, bereitet sie sich auf eine brutale Konfrontation mit der Arbeiterklasse vor. Entscheidend ist, dass Arbeiter darauf mit einem bewussten politischen Programm antworten.
Appelle an SPD, Grüne oder Linkspartei, die Orientierung der Pablisten und aller anderen bankrotten pseudolinken Organisationen der gehobenen Mittelschicht, sind ein Weg in die Katastrophe. Diese Parteien und die Gewerkschaften sind reaktionäre bürgerliche Kräfte, die nicht nur nichts gegen den Rechtsruck tun, sondern ihn als kapitalistische Staatsparteien mit organisieren und administrieren und jeden Widerstand dagegen unterdrücken. Sie repräsentieren nichts anderes als den vollständigen Verfall der bürgerlichen Demokratie und des gesamten kapitalistischen Systems. Auf dieser Grundlage wächst die extreme Rechte – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Diese Entwicklung kann nicht durch moralische Empörung gestoppt werden. Der Kampf gegen Faschismus, Militarismus und soziale Ungleichheit erfordert einen politischen Bruch mit dem gesamten Rahmen der bürgerlich-kapitalistischen Politik und die Entwicklung einer unabhängigen Bewegung der Arbeiter auf sozialistischer Grundlage. Dafür kämpft die SGP gemeinsam mit ihren Schwesterparteien der Vierten Internationale, die das Programm des revolutionären Marxismus gegen Stalinismus, Sozialdemokratie und alle möglichen Spielarten des kleinbürgerlichen Nationalismus verteidigt hat. Sie muss jetzt als neue Führung der Arbeiterklasse aufgebaut werden. Der einzige Weg, einen Rückfall in Weltkrieg und Barbarei zu stoppen, ist die sozialistische Revolution, die den Kapitalismus beseitigt und die Gesellschaft auf einer neuen, egalitären Grundlage reorganisiert.