In den vergangenen Tagen häuften sich Medienberichte, der Bundesnachrichtendienst (BND) habe Indizien dafür, dass das Coronavirus nicht natürlichen Ursprungs sei, sondern aus einem Labor in der chinesischen Stadt Wuhan stamme. Grundlage dafür seien Daten aus chinesischen Forschungseinrichtungen, die der BND im Rahmen einer Geheimdienstoperation unter dem Codenamen „Saaremaa“ beschafft habe. Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung soll der BND bereits 2020 zu dieser Einschätzung gelangt sein. Er beziffere die Wahrscheinlichkeit für deren Korrektheit mit 80 bis 95 Prozent.
Tatsächlich gibt es für diese „Wuhan-Lab-Theorie“ keine wissenschaftlichen Beweise – und sie kann auch nicht wissenschaftlich belegt werden. Es handelt sich um eine Verschwörungstheorie, die bereits 2020 von rechtsextremen Kreisen aufgebracht wurde. Seitdem wurde sie mehrfach wissenschaftlich widerlegt, wird jedoch zunehmend vom politischen Establishment übernommen.
Auf die „Indizien“ des BND, die weder konkret benannt noch kritisch hinterfragt werden, reagierten große Teile der Medienlandschaft, indem sie diese rechtsextreme Verschwörungstheorie übernahmen und die „Wuhan-Lab-Theorie“ als ebenso wahrscheinlich oder gar wahrscheinlicher darstellten, als die wissenschaftlich gestützte Theorie vom natürlichen Ursprung des Virus auf einem Tiermarkt in Wuhan.
Ein Artikel des ZDF ging sogar so weit, über Chinas „biologische Kriegsführung“ zu spekulieren, und behauptete, eine Forschungsabteilung der Nationalen Universität für Verteidigungstechnologie in China arbeite seit Jahren an einem Virus, „das unterscheidet, welche ethnischen Gruppen es angreift und welche nicht“.
Für den morgigen Donnerstag ist im Bundestag eine Debatte angesetzt, die sich mit dem Thema beschäftigen soll. Mehrere Politiker deuteten bereits an, dass diese genutzt werden soll, um die Kriegshetze gegen China zu verschärfen.
So erklärte beispielsweise der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) zur Kontrolle der Geheimdienste, Konstantin von Notz (Grüne): „Sollte sich bestätigen, dass diese Pandemie menschengemacht ist, muss sich an unserer Wahrnehmung dieser Katastrophe grundlegend etwas ändern.“ Der stellvertretende FDP-Vorsitzende und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki forderte die Einbestellung des chinesischen Botschafters.
Auch der scheidende Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erklärte – anstatt die unwissenschaftliche Quacksalberei von der Wuhan-Lab-Theorie zurückzuweisen –, es werde „immer einfacher möglich..., Viren so zu manipulieren, auch andere Erreger, dass sie für Menschen gefährlich sind“. In dieser Hinsicht müsse man „besser vorbereitet“ sein.
China selbst reagierte auf die weitgehenden Vorwürfe des BND sowie der deutschen Politik und Medien mit einer Erklärung der Außenamtssprecherin Mao Ning. Sie erklärte, dass China „in der Frage des Coronavirus … jegliche Form politischer Manöver entschieden ablehnt“. Wissenschaftliche Fragen sollten von Wissenschaftlern beurteilt werden.
Und diese sprechen eine klare Sprache und weisen die angeblichen „Erkenntnisse“ des BND scharf zurück. Der leitende Charité-Virologe Christian Drosten, der Mitglied einer Expertenrunde war, der die Einschätzung des BND vorgestellt wurde, kritisierte, dass die Rohdaten den Wissenschaftlern nicht zugänglich gemacht wurden. „Ich kann daher schon allein mangels Datenzugang kein wissenschaftliches Urteil abgeben“, erklärte er. Zudem seien alle Mitglieder der Runde zur Verschwiegenheit verpflichtet.
Drosten betonte, dass es wichtig sei, „in der Öffentlichkeit zu verstehen, was es bedeutet, eine wissenschaftliche Beurteilung abzugeben. Das bedeutet, man hat Rohdaten, die analysiert man, und diese Analyse publiziert man.“ Mit der Publikation müssten aber auch die Rohdaten veröffentlicht werden, „damit nämlich andere Wissenschaftler mit ihren Methoden diese ebenfalls analysieren können und das herausfordern, was man da in die Öffentlichkeit setzt“.
Das sei der Kern eines wissenschaftlichen Diskurses. Ohne eine ordentliche wissenschaftliche Auswertung bewege man sich lediglich im Bereich von Behauptungen. „Egal, ob ein Professor, ein Geheimdienst oder ein Politiker das behauptet – es sind nur Behauptungen,“ so Drosten. Den Vorwurf, das Virus sei im Labor entstanden, wolle er sich daher nicht zu eigen machen.
Bereits 2020 hatte Drosten mit anderen Wissenschaftlern eine Erklärung in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet unterzeichnet, die „Verschwörungstheorien“ über einen „nicht natürlichen Ursprung“ des Virus verurteilte. Auch angesichts der aktuellen Informationslage ergebe sich laut Drosten eine deutlich überwiegende Wahrscheinlichkeit für einen natürlichen Ursprung – „das nehmen auch fast alle Wissenschaftler an, die mit dem Thema befasst sind.“
Die World Socialist Web Site hat von Beginn an die wissenschaftliche Herangehensweise an die Ursprünge des Coronavirus verteidigt. Als im Januar der damalige CIA-Direktor John Ratcliffe eine „Neueinschätzung“ über die Ursprünge von Covid-19 veröffentlichte, schrieben wir:
Der natürliche Ursprung der Covid-Pandemie auf dem Huanan-Markt für Meeresfrüchte in Wuhan bleibt die einzige überzeugende Erklärung für den Ursprung der Pandemie und wird durch die wissenschaftlichen Beweise, die in den letzten fünf Jahren aufgetaucht sind, unterstützt. Die Verschwörungstheorie des Labordurchbruchs wurde dagegen von im Ausland lebenden chinesischen Antikommunisten ausgeheckt, die mit [dem US-Faschisten und Trump-Berater Steve] Bannon verbündet sind und einen pseudowissenschaftlichen Deckmantel von dem ehemaligen Wissenschaftsredakteur der New York Times, Nicholas Wade, und anderen ebenso anrüchigen Personen bekommen haben.
Wenn sich nun große Teile von Politik und Medien auf angebliche „Indizien“ des BND stützen und sich dieser Truppe anschließen, verleiht das der Verschwörungstheorie keine Glaubwürdigkeit. Der Bundesnachrichtendienst, der von führenden Nazis aufgebaut wurde, hat eine lange Tradition darin, Lügen zur Vorbereitung von Kriegen zu verbreiten. Bereits beim völkerrechtswidrigen Angriff der USA auf den Irak stammten angebliche „Beweise“ für Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen unter anderem von ihm.
Die aktuelle Kampagne findet vor dem Hintergrund der Bildung einer Regierung statt, die eine Aufrüstung wie unter den Nazis sowie einen beispiellosen Sozialkahlschlag plant – und bereits vor der formellen Regierungsbildung ein Rüstungsprogramm von historischem Ausmaß beschlossen hat. Dass Medien und Politiker in dieser Situation rechtsextreme Verschwörungstheorien zum Ursprung des Coronavirus verbreiten, zeigt erneut, wie bewusst sie extrem rechte und faschistische Kräfte stärken.
Mit der ständigen Eskalation der Kriege und den sich zuspitzenden Konflikten zwischen den Großmächten gerät auch China immer stärker ins Blickfeld des deutschen Imperialismus. Die Wuhan-Lab-Verschwörungstheorie bereitet den ideologischen Boden für eine Konfrontation mit China. Gleichzeitig ist sie zum fünften Jahrestag der Pandemie ein verzweifelter Versuch der herrschenden Klasse, von ihrer eigenen Verantwortung für die verheerenden Auswirkungen der Pandemie abzulenken. Nicht das Wuhan-Labor, sondern die bewusste Durchseuchungspolitik im Interesse kapitalistischer Profitlogik ist der Grund für fast 200.000 Coronatote allein in Deutschland und nahezu 30 Millionen weltweit.