Die Niederlande 80 Jahre danach: Einzigartiges Archiv enthüllt Namen von fast einer halben Million Nazi-Kollaborateuren

Deutsche Razzia während des Februarstreiks 1941 in Amsterdam

Achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde ein Archiv über Nazi-Kriegsverbrecher und Kollaborateure in den Niederlanden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Am 1. Januar 2025 wurde das Zentralarchiv der Sondergerichtsbarkeit (Centraal Archief Bijzondere Rechtspleging, CABR), das größte und am häufigsten genutzte Archiv des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden, teilweise online zugänglich gemacht (siehe: https://oorlogvoorderechter.nl/).

Das CABR enthält insgesamt etwa 30 Millionen Seiten an Dokumenten, die wertvolle Einblicke in die Opfer des Holocaust und die Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besatzung bieten, sowie auch in die Bemühungen der niederländischen Arbeiterklasse, jüdische Einwohner vor der Deportation zu schützen. Besonders wichtig ist, dass das Archiv die Namen von 425.000 Personen, d. h. fast 5 Prozent der damaligen niederländischen Bevölkerung, enthält, die während der Besetzung der Niederlande von Mai 1940 bis Mai 1945 der Kollaboration mit den Nazis verdächtigt wurden, und gegen die ermittelt wurde.

Das 3,8 Kilometer lange CABR-Archiv war bisher nur einer begrenzten Anzahl von Historikern und direkt von der NS-Besatzung betroffenen Personen sowie deren Nachkommen zugänglich. Zuvor konnte es nur im Nationalarchiv in Den Haag persönlich eingesehen werden. Jetzt sind 8 Millionen Seiten weltweit online verfügbar oder können von jedermann nach vorheriger Anmeldung persönlich eingesehen werden.

Das Projekt mit dem Namen Oorlog voor de Rechter (Krieg vor Gericht) wurde Ende der 1990er Jahre von Historikern mit dem Ziel initiiert, Dokumente aus dem Zweiten Weltkrieg zu digitalisieren und zu zentralisieren, die zuvor in regionalen Archiven verstreut und unter unzureichenden Bedingungen gelagert worden waren. Die Digitalisierung des Archivs begann offiziell im Jahr 2022 und soll bis 2027 abgeschlossen sein.

Das Archiv enthält detaillierte Dossiers über Nazi-Kollaborateure und Kriegsverbrecher, die teilweise Hunderte von Seiten umfassen. Diese Akten dokumentieren akribisch Anschuldigungen, Ermittlungen und Gerichtsurteile, einschließlich persönlicher Aussagen, Zeugenaussagen und offizieller Berichte. Die Anschuldigungen reichen von der Beherbergung von Nazi-Soldaten und dem Austausch von Informationen bis zur direkten Beteiligung an Nazi-Aktivitäten während der fünfjährigen Besetzung der Niederlande.

Der Index, der derzeit nur auf Niederländisch zugänglich ist, enthält die Namen, Geburtsdaten und Geburtsorte der in den Aufzeichnungen gefundenen verstorbenen Personen. Von der Online-Veröffentlichung ausgeschlossen wurden jedoch die begleitenden Dokumente, die die aufschlussreichsten und überzeugendsten Beweise für das Wesen des Faschismus, der Nazi-Netzwerke, Operationen und Gräueltaten enthalten. Die niederländische Datenschutzbehörde hat die Freigabe der vollständigen Dossiers unter Hinweis auf Verstöße gegen die EU-Datenschutzvorschriften umgehend blockiert.

Seither ist das Archiv einer Medienkampagne ausgesetzt, die darauf abzielt, die historische und politische Bedeutung des Materials zu untergraben und zu diskreditieren und die Online-Zensur zu unterstützen. Dies wurde von Vertretern des gesamten politischen Establishments, einschließlich der nominellen Linken, mit pauschalem Schweigen quittiert.

Das in Amsterdam ansässige NIOD-Institut für Kriegs-, Holocaust- und Völkermordstudien, welches an dem Projekt „War in Court“ beteiligt war, hat gegen die Zurückhaltung der Dokumente protestiert. In einer am 10. Januar veröffentlichten Erklärung heißt es: „Das NIOD drängt darauf, dass diese Situation schnell und effektiv korrigiert wird, indem die eingescannten zugrunde liegenden Akten so bald wie möglich online verfügbar gemacht werden. Die Beschränkungen für die Veröffentlichung des CABR sollten ebenfalls so schnell wie möglich aufgehoben werden.“

Die niederländische Bevölkerung ist sehr daran interessiert, die Dokumente und die Namensliste einzusehen und zu studieren. Nach Angaben eines Sprechers des Nationalarchivs, den die Brussels Times zitiert, „verzeichnet die Website extrem hohe Zugriffszahlen. Heute Morgen hatten wir eine lange Schlange von Leuten, die auf das Reservierungsmodul zugreifen wollten.“

Werner Zonderop, der im Archiv arbeitet, sagte der Associated Press: „Das Interesse ist unglaublich groß. Die Plätze für den Lesesaal sind bis Ende Februar ausgebucht. Jeden Tag öffnen sich um Mitternacht neue Termine und sind innerhalb von Minuten ausgebucht.“

Während des Holocausts wurden 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden systematisch umgebracht. Die meisten von ihnen hatten seit Jahrhunderten im Land gelebt. Die überwiegende Mehrheit kam in Konzentrations- und Vernichtungslagern wie Auschwitz und Sobibor um, was den höchsten Prozentsatz an jüdischen Opfern in einem einzigen Land in Westeuropa darstellt.

Es wäre politisch kurzsichtig und falsch zu glauben, dass die Nazi-Besatzung der Niederlande in der niederländischen Bevölkerung breite Unterstützung fand. Während die niederländische Bourgeoisie und ihre königliche Elite über den Ärmelkanal flohen, um sich und ihren Reichtum zu retten, hat die niederländische Arbeiterklasse eine reiche Geschichte des tapferen Widerstands gegen die Nazi-Besetzung vorzuweisen.

Eine mutige Widerstandshandlung während des Zweiten Weltkriegs war das Verstecken der jüdischen Bevölkerung vor den Nazis. Ungefähr 28.000 Menschen versteckten sich in den Niederlanden, die meisten von ihnen jüdische Flüchtlinge aus Österreich und Deutschland. Mehr als die Hälfte blieb unentdeckt. Unter ihnen befand sich auch Anne Frank und ihre Familie aus Frankfurt, die schließlich verraten wurde, und deren Tagebuch, das sie im Versteck im geheimen Anbau an der Prinsengracht in Amsterdam schrieb, bis heute Millionen von Menschen weltweit inspiriert.

Im Februar 1941 schrieb die niederländische Arbeiterklasse Geschichte, als sie sich mutig der Nazi-Besatzung widersetzte und jüdische Bürger verteidigte, was weithin als der erste öffentliche Protest gegen die Nazis im besetzten Europa gilt: Am 17. und 18. Februar traten die niederländischen Werftarbeiter in den Streik.

Dies löste am 24. Februar eine weit verbreitete Streikwelle aus, die von Straßenbahnfahrern und Reinigungskräften eingeleitet wurde und der sich später auch Hafenarbeiter und ein Großteil der Industriearbeiterschaft anschlossen. Fabriken, Büros, Geschäfte und Restaurants wurden geschlossen, und allein in Amsterdam beteiligten sich schätzungsweise 300.000 Menschen am Streik. Die Streikwelle breitete sich über die Städte aus; beteiligt war ein breiter Querschnitt der Arbeiterklasse, darunter auch Bergarbeiter, Bauern, Ärzte, Universitätsmitarbeiter und Studierende.

Die Öffnung des Archivs bietet unschätzbare Einblicke in eine dunkle Periode der niederländischen Geschichte und wirft ungelöste historische, politische und Klassenfragen des 20. Jahrhunderts auf. Der Verrat an der deutschen Arbeiterklasse durch die Sozialdemokratie und den Stalinismus hatte den Weg für den Faschismus bereitet und ebnete dem Zweiten Weltkrieg den Weg, der 80 Millionen Toten forderte und zur Vernichtung von 6 Millionen Juden führte.

Im März 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, schrieb Leo Trotzki, der im Exil auf der Insel Prinkipo lebte:

Es gibt einen allgemeinen Grund für den Verfall der Demokratie: Die kapitalistische Gesellschaft hat ihre Blütezeit überlebt. Sie zerstört durch nationale und internationale Gegensätze im Innern eines jeden Landes die demokratische Struktur, wie der Weltantagonismus das dekorative Gebäude des Völkerbundes zerstört. Wo sich die fortschrittliche Klasse unfähig zeigt, die Macht zu ergreifen und die Gesellschaft auf sozialistischer Basis neu aufzubauen, kann der im Todeskampf liegende Kapitalismus nur durch die brutalsten und barbarischsten Methoden aufrecht erhalten werden; der konsequenteste Ausdruck dieser Herrschaftsform ist der Faschismus. Das ist die historische Tatsache, die sich in Hitlers Sieg widerspiegelt. (Leo Trotzki, „Hitlers Sieg – Die Schande der Arbeiterführer“, in: Schriften über Deutschland, Band II, S. 475)

Die Relevanz von Trotzkis Analyse zu Deutschland im Jahr 1933 - und der vernichtenden Folgen, wie sie in dem niederländischen Archivmaterial eklatant zutage treten - ist in auffallender Weise auf die heutigen Niederlande, die USA, Deutschland und andere Länder anwendbar. Wie andere imperialistische Mächte lässt auch die niederländische herrschende Klasse ihre eigenen berüchtigten kolonialen Traditionen wieder aufleben und bereitet sich auf eine erneute Neuaufteilung des Globus vor, indem sie die Kriegshaushalte auf Kosten der Sozialausgaben ständig erhöht und gleichzeitig einen bösartigen Angriff auf Flüchtlinge und eingewanderte Arbeiter führt.

Der Aufstieg rechtsextremer Parteien, insbesondere in Europa und den USA, ist eng mit der globalen Militarisierung und der zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheit verbunden, die durch kapitalistische Herrschaft und imperialistische Politik verschärft wird. Der ehemalige niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, jetzt Nato-Generalsekretär, befürwortet eine Erhöhung der Verteidigungshaushalte auf bis zu 4 Prozent des BIP, wobei die USA und Deutschland auf eine noch deutlichere Erhöhung drängen.

In den Niederlanden werden sich die Militärausgaben von 12 Milliarden Euro im Jahr 2021 auf 24 Milliarden Euro im Jahr 2025 verdoppeln. Den Haag hat für den Zeitraum 2022 bis 2025 10,4 Milliarden Euro zur Unterstützung der Ukraine zugesagt, wobei 3,76 Milliarden Euro bereits ausgegeben wurden.

Diese explodierenden Verteidigungsausgaben gehen zu Lasten des mageren Sozialbudgets, das unter vier aufeinanderfolgenden Rutte-Regierungen gekürzt wurde. Jetzt werden weitere 1,2 Milliarden Euro im Bildungswesen, 300 Millionen Euro im Gesundheitswesen und 315 Millionen Euro bei den Kultureinrichtungen gestrichen. Das Arbeitslosengeld wird gekürzt und für Sektoren wie Kultur, Medien und Sport werden Mehrwertsteuererhöhungen erwartet.

Die anhaltende Inflation von rund 4 Prozent hat die Lebensbedingungen der niederländischen Arbeiterklasse verschlechtert. Die obligatorische Krankenversicherung ist um 6,8 Prozent, die Mieten sind in einem einzigen Jahr um 5,8 bis 8 Prozent gestiegen, während die pandemischen Milliardäre und die Finanzelite weiterhin satte Gewinne einfahren. Eine aktuelle Statistik zeigt, dass innerhalb der ersten Woche des neuen Jahres 16 niederländische Vorstandsvorsitzende bereits den Jahreslohn eines niederländischen Arbeiters mit einem Mindestlohn von 14 Euro pro Stunde eingesackt haben.

Die zunehmende Militarisierung in Verbindung mit noch nie dagewesenen Kürzungen im Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungswesen führt zu einer Eskalation der Klassenspannungen. Die Antwort der herrschenden Klasse in den Niederlanden, wie auch anderswo, besteht darin, die Rechtsextremen zu stärken, den nationalen Chauvinismus zu schüren und die ärmsten Teile der Arbeiterklasse wie Flüchtlinge und Gastarbeiter zum Sündenbock für soziale Missstände zu machen.

Die niederländische und internationale Arbeiterklasse hat das Recht auf uneingeschränkten Zugang zum gesamten Material des niederländischen Nationalarchivs, um das entscheidende historische Verständnis für die Dynamik der faschistischen Politik und Herrschaft während der Besatzung zu erlangen. Dieses Verständnis ist von entscheidender Bedeutung, da die europäischen politischen und finanziellen Eliten ihren Klassenvorgängern aus den 1930er und 1940er Jahren immer ähnlicher werden und sich autoritäre Herrschaftsformen, imperialistische Kriege, Völkermord und Austerität zu eigen machen.

Die einzige praktikable Antwort auf die Krise des Kapitalismus, seine Oligarchie und die Gefahr des Faschismus ist die revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse im Weltmaßstab auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.