Es gehört zum Wesenskern der Grünen, dass sie jeden politischen Rechtsruck mit lautem Gezeter begleiten. Es genügt ihnen nicht, den Pazifismus der Kriegspolitik, den Umweltschutz der Autoindustrie, das Asylrecht der Festung Europa und die Demokratie dem Aufbau eines Polizeistaats zu opfern. Sie wollen dafür auch noch bedauert werden. Jedermann soll sehen, wie sie mit ihrem Gewissen ringen, wenn sie ihre moralischen Grundsätze dem deutschen Imperialismus zu Füßen legen.
Grünen-Parteitage – oder wie es im Parteijargon heißt: Bundesdelegiertenkonferenzen – sind daher in der Regel von langen, emotionalen Debatten, von hunderten Anträgen, Gegen-Anträgen und Gegen-gegen-Anträgen sowie von Hinterzimmerintrigen geprägt. Um jedes Wort, um jedes Komma wird gefeilscht – bis schließlich ein fauler Kompromiss herauskommt, um den sich kein grüner Minister und sonstiger Amtsträger jemals gekümmert hat.
Das war auch am vergangenen Wochenende in Hannover wieder so. Diesmal drehte sich der Streit um den Nahost-Konflikt. Nachdem die israelische Armee weit über 70.000 Palästinenser getötet und den Gaza-Streifen in ein Trümmerfeld verwandelt hat, und nachdem die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, die den Genozid aktiv unterstützte, nicht mehr im Amt ist, sahen sich die Grünen aus wahltaktischen Gründen gezwungen, ihre bedingungslose Unterstützung Israels verbal abzuschwächen.
Die Co-Vorsitzende Franziska Brantner, einst Praktikantin bei der Henrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv, sah die Auseinandersetzung heraufziehen und richtete Wochen vor dem Parteitag eine Arbeitsgruppe zu dem Thema ein, in der unterschiedliche Standpunkte vertreten waren. Der Bundesvorstand legte einen Leitantrag vor, der einerseits den Krieg rechtfertigt – Israel habe das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen Angriffe zu verteidigen –, andererseits Israels Kriegsführung als „völkerrechtswidrig“ bezeichnet. Dazu wurden im Vorfeld des Bundesparteitags mehr als 100 Änderungsanträge eingereicht.
Während die Delegierten im Saal über Formalien und die Besetzung verschiedener Parteiämter abstimmten und sich über die Haltung zu Gaza stritten, verhandelte Brandtner in Hinterzimmern stundenlang über Kompromisse und hatte schließlich Erfolg. Eine Stunde nach Mitternacht stimmte die Mehrheit der 800 Delegierten für einen Leitantrag zur Außenpolitik, der zwar einige Worte ändert, aber sonst alles beim Alten lässt.
Obwohl sie für eine Zwei-Staaten-Lösung eintreten, konnten sich die Grünen noch nicht einmal zur symbolischen Forderung nach Anerkennung eines palästinensischen Staats durchringen. Stattdessen einigte man sich auf die Formulierung, dass die Anerkennung durch Deutschland „im aktuellen Friedensprozess“ ein „prioritärer Schritt“ sein müsse. Mit dem „aktuellen Friedensprozess“ ist der Trump-Plan gemeint, der Gaza in ein Protektorat der imperialistischen Mächte verwandelt und den Palästinensern alle demokratischen Rechte verweigert.
Der Streit über Palästina sollte verbergen, dass die Grünen in der Kriegspolitik mittlerweile sogar die CDU von Bundeskanzler Merz rechts überholt haben. Sie treten für eine Eskalation des Kriegs gegen Russland und – als einzige Partei im Bundestag – für die Lieferung von Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine ein. Bundeskanzler Merz hat in dieser Frage inzwischen einen Rückzieher gemacht. Die Lieferung des weitreichenden und hochpräzisen Taurus könnte Russland zu einem militärischen Gegenschlag auf deutsche Ziele veranlassen.
„Die Durchhaltefähigkeit der Ukraine hängt nicht zuletzt von unserer Unterstützung ab,“ heißt es im Leitantrag, den die Delegierten verabschiedet haben. Er fordert außerdem „eine massive Verschärfung der Sanktionen“. Es sei „untragbar, dass einzelne EU-Mitgliedsstaaten noch immer mit dem Kauf von russischem Öl und Gas täglich Millionen in Putins Kriegskasse spülen“.
Trumps Ukraine-Plan bezeichnet der Leitantrag als „offensichtlicher Versuch, die Ukraine zu unterwerfen und einen gefährlichen Deal zum Nachteil Europas zu machen“. Trump suche „den Pakt mit Kriegsverbrecher Putin“.
In Vorbereitung auf einen Krieg mit Russland sprach sich der Parteitag für eine verpflichtende Musterung aller junger Männer aus, und damit für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht durch die Hintertür. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) setzt – noch – auf Freiwilligkeit.
Dass die Grünen immer weiter nach rechts rücken, zeigte auch der begeisterte Applaus, mit dem der Parteitag Cem Özdemir feierte. Der langjährige Bundestagsabgeordnete und frühere Bundeslandwirtschaftsminister will bei den baden-württembergischen Landtagswahlen im März den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ablösen, der aus Altersgründen zurücktritt. Bisher mit wenig Aussicht auf Erfolg.
Özdemir hat bereits deutlich gemacht, dass er sich weder an das Programm noch an die Beschlüsse der Grünen halten werde. Er lobte auf dem Parteitag den früheren grünen Außenminister Joschka Fischer und dessen Unterstützung des Jugoslawienkriegs sowie die Einführung von Hartz IV. Er setzt sich für die Zulassung von Verbrennerautos über das von der EU gesetzte Jahr 2035 hinaus ein und verkündete: „Klimaschutz gibt es nur mit der Wirtschaft zusammen, nicht gegen die Wirtschaft.“ Ein Zukunftspakt sei nur gemeinsam mit den Unternehmen möglich und nicht mit „radikalen Sprüchen“ und „Parolen aus Wolkenkuckucksheim“.
Die Delegierten dankten ihm mit minutenlanger, stehender Ovation.
Die Entwicklung der Grünen bestätigt Marx‘ berühmten Satz, dass die Geschichte der Gesellschaft eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Nicht moralische Werte oder Kants kategorischer Imperativ bestimmen politisches Handeln, sondern materielle Klasseninteressen.
Die Grünen verkörpern jene wohlhabende Mittelschicht – die obersten 90 bis 99 Prozent auf der Einkommensskala –, die ihren Wohlstand und ihren Lebensstil durch die zunehmende soziale Polarisierung bedroht sieht, die mit Angst auf die Radikalisierung der Arbeiterklasse und mit Neid auf das reichste eine Prozent blickt, dessen Vermögen das ihre um ein Vielfaches übersteigt.
Natürlich gibt es individuelle Ausnahmen. Nicht jeder gutverdienende Akademiker und Großstadtbewohner geht automatisch nach rechts. Aber sobald diese Schicht als organisierte Partei auftritt, wird sie zu einer Stütze der herrschenden Ordnung.
Solange es Raum für soziale Kompromisse gab, traten die Grünen „links“ auf. In einigen Ländern wie Großbritannien, wo das Mehrheitswahlrecht sie bisher von Regierungsämtern fernhielt, tun sie das auch heute noch. Aber die Zeit der sozialen Kompromisse ist lange vorbei.
Die stete Rechtsentwicklung der deutschen Grünen ist selbst ein Ausdruck der fortgeschrittenen Krise des globalen Kapitalismus, die solche Kompromisse nicht mehr zulässt. Sie ist ein Vorbote heftiger Klassenkämpfe, in denen die Arbeiterklasse unter ihrer eigenen, revolutionären Führung als unabhängige Kraft auftreten und den Kapitalismus stürzen wird. Diese Führung aufzubauen ist jetzt das dringende Gebot der Stunde.
