Kurz nach dem Ende des EU-Gipfels in Brüssel am Freitag hat sich im Mittelmeer eine weitere Katastrophe ereignet. Medienberichten zufolge kenterte ein Boot mit etwa 120 Flüchtlingen und Migranten vor der libyschen Küste. Nur wenige Menschen seien gerettet worden und über hundert voraussichtlich ertrunken. Laut Zeugen waren viele marokkanische und jemenitische Familien an Bord des Schlauchbootes, darunter Babys, Kinder und zahlreiche Frauen.
Infolge der Blockade und der Kriminalisierung von Seenotrettern waren bereits vor dem Gipfel innerhalb weniger Tage bei mehreren Unglücken etwa 220 Menschen ertrunken. Und „das ist eine konservative Schätzung“, sagte der Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR). Insgesamt sind damit laut UN-Angaben seit dem 1. Januar 2014 über 16.346 Menschen (Stand 18. Juni 2018) ums Leben gekommen und seit dem Jahr 2000 sogar über 35.000 Menschen an den europäischen Außengrenzen gestorben.
Die Verantwortung für diesen Massenmord liegt bei der EU und ihren nationalen Regierungen, die sich in Brüssel auf eine weitere massive Verschärfung ihrer Flüchtlingspolitik geeinigt haben.
Vorgesehen sind unter anderem die komplette Abriegelung der „Festung Europa“ und Massendeportationen in die Kriegsgebiete des Nahen und Mittleren Ostens. „Der Europäische Rat erinnert daran, dass die Mitgliedstaaten eine wirksame Kontrolle der EU-Außengrenzen mit finanzieller und materieller Unterstützung der EU gewährleisten müssen. Er betont ferner, dass die effektive Rückführung irregulärer Migranten deutlich verstärkt werden muss,“ heißt es in den offiziellen „Schlussfolgerungen“ des Gipfels.
Um die Abwehr von Flüchtlingen durchzusetzen, soll etwa die europäische Grenzschutzagentur Frontex „durch eine Aufstockung der Mittel und ein erweitertes Mandat weiter ausgebaut werden“. Außerdem ist die Einrichtung von de facto Konzentrationslagern für Flüchtlinge in Nordafrika und innerhalb der EU geplant. Sie werden in der Gipfelerklärung euphemistisch als „Ausschiffungsplattformen“ und „kontrollierte Zentren“ zur „Umsiedlung und der Neuansiedlung“ bezeichnet.
Auch nationale Maßnahmen, wie die Durchführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU, sind explizit möglich. „Was die Lage innerhalb der EU betrifft, so droht die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen Mitgliedstaaten die Integrität des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und des Schengen-Besitzstands zu gefährden. Die Mitgliedstaaten sollten alle erforderlichen internen Rechtsetzungs- und Verwaltungsmaßnahmen gegen diese Migrationsbewegungen treffen und dabei eng zusammenzuarbeiten“, heißt es in Punkt 11 der Erklärung.
Die Maßnahmen gegen Flüchtlinge entlarven die EU als reaktionäres Monstrum, das die nationalen Regierungen trotz ihrer wachsenden Spannungen untereinander dafür nutzen, die gesamte europäische Politik weiter nach rechts zu verschieben. In weiteren Abschnitten der „Schlussfolgerungen“ geht es um die „Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit“, die Zensur des Internets, den Ausbau des europäischen Polizeistaats und die Fortsetzung der Austeritätspolitik.
Nach dem Gipfel von Brüssel steht die EU so weit rechts, dass sie von nationalistischen und rechtsextremen Kräften in ganz Europa bejubelt wird. In einem Pressestatement erklärte der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, der in Wien zusammen mit der rechtsextremen FPÖ regiert und dessen Regierung am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, er werde nun „Druck machen“, dass die Gipfelergebnisse auch umgesetzt würden. Er sei froh, dass es „mehr und mehr Partner gibt, die unsere Linie unterstützen und dass bei vielen ein Umdenken stattgefunden hat, die vor einiger Zeit noch für ein Europa der offenen Grenze eingetreten sind.“
In Rom erklärte der rechtsextreme italienische Innenminister Matteo Salvini, er sei „zufrieden und stolz“. Europa sei durch das entschlossene Handeln Roms gezwungen worden, über italienische Vorschläge zu sprechen – und sie schließlich anzunehmen. Jetzt warte er nur noch auf „konkrete Zusagen“. Zu Salvinis faschistischen „Vorschlägen“ gehören die Ausweisung „aller 600.000“ Migranten aus Italien und die Registrierung und Zählung der Sinti und Roma im Land.
In Deutschland stellte sich der außenpolitische Sprecher der rechtsextremen AfD, Armin-Paul Hampel, hinter die EU-Gipfelerklärung. „Es geht in die richtige Richtung. Das ist ja etwas, was wir schon seit mehreren Jahren sagen, dass die Problematik vor den europäischen Grenzen angegangen werden muss und nicht erst, wenn sich Menschen über viele tausend Kilometer mit Unterstützung und Hilfe von kriminellen Banden und Schleppern auf den Weg gemacht haben,“ erklärte er im Deutschlandfunk. Das „Entscheidende“ sei nun die Umsetzung der Maßnahmen, „ob es mit diesen Auffangzentren gelingt, ja oder nein“.
Auch die CSU zeigte sich mit den beschlossenen Maßnahmen zufrieden. Sie seien „ein Ergebnis der Debatte in Deutschland, dass sich auf EU-Ebene endlich stärker mit der Migrationsthematik auseinandergesetzt wird“, erklärte der CSU Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in Berlin. Eine Reihe an Punkten, so zum Beispiel der bessere Schutz der Außengrenzen, seien Maßnahmen, „die wir als CSU seit Langem mit Nachdruck einfordern“. Zudem verwies er darauf, dass in dem Gipfeldokument „das Ergreifen von nationalen Maßnahmen ausdrücklich vorgesehen“ sei. Man sei „bereit, das aufzugreifen“, und halte „nationale Maßnahmen weiter für notwendig“.
Auf der Grundlage der Beschlüsse von Brüssel zeichnet sich zumindest eine vorübergehende Einigung im Koalitionsstreit zwischen CDU und CSU ab. So plädierte der CSU-Parteivize Manfred Weber im Münchener Merkur ebenfalls dafür, die Beschlüsse positiv zu beurteilen. Mit Blick auf Kanzlerin Angela Merkel sagte er: „Sie hat geliefert.“
Merkel selbst pries die Gipfelergebnisse auf einer Pressekonferenz in Brüssel und wies dabei auch auf die Notwendigkeit nationaler Maßnahmen hin, wie sie die CSU einfordert. Man habe „ein umfassendes Migrationskonzept entwickelt, das die Außengrenzen und die Kontrolle dieser Außengrenzen umfasst, das das auswärtige Handeln, also das Handeln außerhalb der Europäischen Union, mit einbezieht und das die inneren, internen Aspekte, also das, was wir jetzt als Sekundärmigration bezeichnen, auch in den Blick nimmt.“
Bereits in ihrer Regierungserklärung am Donnerstag hatte Merkel im besten CSU-Sprech erklärt: „Es geht um Ordnung, Steuerung, wirksam, nachhaltig. Es geht um unsere innere Sicherheit, und es geht um die innere Sicherheit der gesamten Europäischen Union. Dazu sind nationale Maßnahmen und auch europäische Maßnahmen notwendig.“
Am Freitag verkündete Merkel „europäische“ Rückführungsabkommen mit Griechenland und Spanien. Die beiden Länder seien „bereit, Asylsuchende wiederaufzunehmen, die künftig von deutschen Behörden an der deutsch-österreichischen Grenze festgestellt werden und einen EURODAC-Eintrag der genannten Staaten haben“, heißt es in einer Pressemitteilung der Bundesregierung. Im Gegenzug bekämen „die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen mehr gemeinsame Unterstützung..., und zwar sowohl finanziell als auch hinsichtlich einer Ausstattung mit Polizisten“.
Die Tatsache, dass alle Regierungsparteien in Europa – von der pseudolinken Syriza in Griechenland, über die sozialdemokratische PSOE-Regierung in Spanien und die Große Koalition in Deutschland bis hin zu den offen rechten Regierungen in Italien, Österreich und Osteuropa – eng zusammenarbeiten, um den Terror gegen die Flüchtlinge zu intensivieren, unterstreicht die Korrektheit der Perspektive des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Um die gefährliche politische Entwicklung zurückzuschlagen, die an die dunkelsten Zeiten der europäischen Geschichte erinnert, müssen Arbeiter und Jugendliche allen Fraktionen der Kapitalisten-Klasse den Kampf ansagen und bewusst für ein sozialistisches Programm eintreten.
In einer Erklärung, die am Vorabend des EU-Gipfels auf der World Socialist Web Site erschien, schreiben wir: „Der Kampf gegen die Offensive der EU erfordert die unabhängige Organisation der Arbeiter in Aktionskomitees an den Arbeitsplätzen und in Wohnvierteln, um Widerstand und Streiks gegen Polizeirazzien und Angriffe auf Immigranten und Flüchtlinge koordinieren zu können. Die Verteidigung demokratischer Grundrechte erfordert:
* Die Auflösung der Haftlager im Nahen Osten und Nordafrika, den Rückzug europäischer und amerikanischer Truppen aus diesen Regionen, sowie freien und sicheren Übergang für Flüchtlinge in das EU-Land ihrer Wahl.
* Die Auflösung der „Hotspot“-Konzentrationslager und die Anerkennung aller Flüchtlinge und nicht gemeldeten Immigranten in Europa.
* Die Abschaffung der EU-Grenzpolizei Frontex.
* Die Verweigerung der Zusammenarbeit mit der EU-Abschiebungsmaschinerie und jeder staatlichen Politik, die ethnische Säuberungen vorbereitet.
* Die Bereitstellung von Billionen Euro für öffentliche Dienstleistungen, Ausbildung und Arbeitsplätze für alle Arbeiter unabhängig von ihrer Herkunft. Die Vermögen, welche die EU in den letzten zehn Jahren für Bankenrettungen verschwendet hat, müssen enteignet und dazu benutzt werden, die drängenden sozialen Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung zu erfüllen.“
Dies Forderungen sind nach dem Gipfel von Brüssel dringlicher denn je!