Am vergangenen Dienstag besuchte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in Berlin-Kreuzberg streikende Beschäftigte vom Lieferdienst Gorillas. Er wolle sich vor Ort ein Bild über die „wirkliche Situation“ und die „konkreten Probleme der Beschäftigten“ machen, sagte Heil in einem anschließenden Pressegespräch.
Der Arbeitsminister machte einen auf Kumpel, ging auf eine Gruppe von Gorillas-Beschäftigten zu und rief: „Wer von euch ist Rider?“ Er sei sehr daran interessiert, von den Betroffenen persönlich zu hören, welche Probleme sie hätten und warum die Protestaktionen seit über vier Wochen anhielten. Umringt von einem Großaufgebot der Medien, ließ sich der Minister über die miserablen Arbeitsbedingungen unterrichten, die seit langem bekannt sind. Wenn sich die Situation nicht bessere, sollten die Streikenden sein Büro informieren. „Dann treffen wir uns wieder“, rief er und eilte zu den Medien.
Im Grunde war der Kurzbesuch des Ministers eine politische Unverschämtheit. Hubertus Heil nutzte den Streik der Riders als Kulisse für einen Foto-Termin und Wahlkampfauftritt, um sich und die SPD als Gegner der extremen Ausbeutung darzustellen, obwohl jedermann weiß, dass es genau umgekehrt ist.
Seit Jahrzehnten leitet fast ausschließlich die SPD das Arbeits- und Sozialministerium auf Bundesebene. Vor 20 Jahren hat sie im Bündnis mit den Grünen die Hartz-Gesetze verabschiedet und damit einen Niedriglohnsektor geschaffen, der jetzt dazu dient, reguläre Löhne und Arbeitsbedingung zu zerschlagen. Heil selbst war damals im Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion und hat sich stark für die Durchsetzung der Hartz-Gesetze und der Arbeitsmarktliberalisierung eingesetzt.
Jetzt geht es ihm darum, den Widerstand gegen die extreme Ausbeutung unter Kontrolle zu halten. Heil und die SPD befürchten, dass der Streik der Gorillas-Riders sich ausbreitet und zum Ausgangspunkt für eine breite Bewegung gegen Entlassungen, Lohnsenkung und Sozialabbau werden könnte. Denn die miserablen Arbeitsbedingungen bestehen nicht nur bei vielen anderen Lieferdiensten und sind in der so genannten Plattform- und Gig-Ökonomie verbreitet, sondern werden mehr und mehr auch in den traditionellen Bereichen der Produktion und Verwaltung durchgesetzt.
In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass Heil die streikenden Gorillas-Beschäftigten mehrmals aufrief, sich gewerkschaftlich zu organisieren und einen Betriebsrat zu gründen. Er berichtete, dass er am selben Vormittag ein Gespräch mit der Geschäftsleitung von Gorillas geführt und dabei die Bedeutung eines Betriebsrats erläutert habe. „Ich habe von Seiten des Managements die feste Zusage, dass sie künftig keinerlei Behinderung einer Betriebsratswahl betreiben werde“, sagte er den Riders und wertete das als wichtigen Erfolg.
Auf die Frage, eines Streikenden, ob das Management auch Zusagen gemacht habe, die Arbeitssicherheit zu verbessern und die Löhne pünktlich und vollständig auszuzahlen, antwortete Heil ausweichend. Er könne sich als Minister nicht direkt in die Auseinandersetzung einmischen. Das widerspreche der Tarifautonomie. Dann wiederholte er: „Dafür brauchen sie ja gerade einen Betriebsrat, der dafür sorgt, dass die Gesetze und tariflichen Vereinbarungen eingehalten werden.“ Ein Betriebsrat sei notwendig um für „Law-and-Order im Betrieb zu sorgen“, fügte er hinzu.
Schon diese Wortwahl ist aufschlussreich. Der Begriff „Law-and-Order“ entstammt der Sicherheitspolitik und wird meist in Zusammenhang mit innerstaatlicher Aufrüstung und einem Polizeistaat verwendet. Dass Heil die Aufgabe eines Betriebsrats mit „Law-and-Order“ gleichsetzt, trifft den Kern der Sache. Durch die Wahl eines Betriebsrats sollen künftig spontane Streiks und Protestaktionen während der Arbeitszeit – wie sie gegenwärtig bei Gorillas stattfinden – verhindert werden. Ein künftiger Betriebsrat soll als Betriebspolizei fungieren und im Interesse der Unternehmer für Ruhe und Ordnung sorgen.
Genau das findet gegenwärtig in Industriebetrieben und Verwaltungen statt. Viele Unternehmen, auch in den industriellen Kernbereichen der Auto- und Zulieferindustrie, Elektroindustrie, Stahlverarbeitung usw., haben die Corona-Pandemie zum Anlass genommen, Massenentlassungen, Lohnsenkungen und schlechtere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Unternehmensteile werden ausgegliedert und Arbeiter werden gezwungen, unter drastisch verschlechterten Bedingungen zu arbeiten.
Die Gewerkschaften und ihre Betriebsräte spielen bei diesem sozialen Kahlschlag die entscheidende Rolle. Sie vertreten nicht die Arbeiter, sondern die Unternehmer – und dafür werden sie bestens bezahlt. Hunderttausende Entlassungen in der Stahl- und Metallindustrie tragen die Unterschriften der IG Metall und ihrer Betriebsräte. Die so genannten Arbeitnehmervertreter sitzen in den Aufsichtsräten, kassieren hohe Tantiemen und arbeiten aufs Engste mit der Konzernleitung und dem Management zusammen.
Hier in Berlin hat die Gewerkschaft Verdi in enger Zusammenarbeit mit den Senatsparteien SPD und Die Linke die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst dezimiert, Kliniken privatisiert, Dienstleistungen ausgegliedert und die Löhne bei der BVG gesenkt.
Um zu verhindern, dass sich die Militanz der prekär Beschäftigten mit dem wachsenden Widerstand gegen Massenentlassungen und Lohnsenkungen in Industriebetrieben, Verkehrsunternehmen und Verwaltungen verbindet, drängt die Regierung darauf, dass auch in der „New-Economy“ Betriebsräte aufgebaut werden. Deshalb wurde im Mai ein sogenanntes „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ im Bundestag verabschiedet, das die Gründung von Betriebsräten erleichtern soll.
Es ist offensichtlich, dass die Gründung eines Betriebsrats bei Gorillas die Situation der Beschäftigten nicht verbessern, sondern verschlechtern würde. Die spontanen Streiks und Proteste, die in den vergangenen Wochen großes Aufsehen erregt haben, würden dann unterdrückt.
Der Besuch von Minister Heil hat die Betriebsrats-Debatte unter den Gorillas-Beschäftigten deutlich verschärft. Dass der Minister und die Geschäftsführung sich für die Wahl eines Betriebsrats aussprechen, hat viele Streikenden noch skeptischer gegenüber dieser Initiative gemacht. Auf die Frage von WSWS-Reportern, was sie von dem Besuch des Ministers halten und wie sie seinen Aufruf zur Gründung eines Betriebsrats einschätzen, reagierten einige Rider mit der Bemerkung: „Wahlkampf – sonst nichts!“. Einer fügte hinzu, er hätte ohnehin nicht viel erwartet, aber über die Betriebsratsfrage müsse nochmal diskutiert werden.
Ein Vertreter vom „Gorillas Workers Collective“ (GWC) erklärte, jeder Betriebsrat sei nur so gut, wie die Leute, die gewählt wurden, und wenn sich jemand vom Unternehmer kaufen lasse, dann werde er eben abgewählt und durch einen anderen ersetzt.
Doch das stimmt nicht. Ein Betriebsrat ist kein Arbeiterrat und auch keine Interessenvertretung der Beschäftigten, sondern ein betriebliches Gremium, dessen Funktionsweise, Rechte und Pflichten gesetzlich sehr genau festgelegt sind. Das Betriebsverfassungsgesetz verpflichtet den Betriebsrat zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ im Interesse des Unternehmens und zur Einhaltung aller Vereinbarungen. In vielen Fragen unterliegt ein Betriebsrat der Schweigepflicht. Auch ist es dem Betriebsrat verboten, zu Streiks und Arbeitskampfmaßnahmen aufzurufen. Stattdessen ist er verpflichtet, sich für das „Betriebswohl“ einzusetzen.
Durch die Bildung eines Betriebsrats würde also die Sklavenarbeit bei Gorillas nicht abgeschafft, sondern vertraglich geregelt und festgeschrieben. Gleichzeitig würden die Möglichkeiten, spontane Streiks zu organisieren, wesentlich erschwert, denn während der Laufzeit von Tarifverträgen herrscht gesetzliche Friedenspflicht, d.h. Streikverbot.
Im Frühjahr schlug die DGB-Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) die Gründung eines Betriebsrats vor und begann mit Gorillas-Beschäftigten Gespräche, in denen sie ihre eigene Arbeit über den Klee lobte.
Doch die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Die NGG selbst spielt selbst eine wichtige Rolle dabei, die extreme Ausbeutung in der Branche aufrechtzuerhalten. Während der Pandemie wurden die extremen Ausbeutungsbedingungen in der Fleischindustrie bekannt. Namen wie Tönnies stehen heute für kriminelle Schinderei in Kühlhäusern und brutale Behandlung der Beschäftigten. Mehr als 1500 Tönnies-Arbeiter haben sich im vergangenen Jahr mit Covid-19 infiziert. Immer wieder wurden die Gesundheitsauflagen durch Umstrukturierung des Unternehmens umgangen. Der NGG-Betriebsrat war in all diese Entwicklungen eingebunden. Die Werkvertragsarbeiter in der Fleischindustrie – die große Mehrheit der Beschäftigten – werden von der Gewerkschaft systematisch ignoriert.
Dass die Gewerkschaften eine Schlüsselrolle dabei spielen, die Verschärfung der Ausbeutung durchzusetzen, ist eine internationale Entwicklung. Von den Regierungen werden sie dafür nach Kräften unterstützt. Vor wenigen Monaten rief US-Präsident Joe Biden die Arbeiter von Amazon in Alabama auf, die Handelsgewerkschaft RWDSU zu unterstützen. Doch die Arbeiter entschieden sich dagegen. Die reaktionäre und korrupte Rolle der Gewerkschaften war zu sehr bekannt.
Überall dort, wo Arbeiter ernsthaften Widerstand organisieren, sind sie gezwungen dies in einer regelrechten Rebellion gegen die Gewerkschaften zu tun. Dreimal stimmten die Arbeiter von Volvo-Trucks im US-Bundesstaat Virginia gegen einen von der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) ausgehandelten Tarifvertrag, der massive Verschlechterungen beinhaltete, und organisierten einen fünfwöchigen Streik. Dann isolierte die Gewerkschaft den Streik, versuchte die Arbeiter auszuhungern und setzte den Vertrag gegen den Widerstand der Beschäftigten durch.
Deshalb lehnt die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) die Gründung eines Betriebsrats bei Gorillas entschieden ab.
Auf der Kundgebung mit Minister Heil am Dienstag verbreiteten Mitglieder der SGP einen Aufruf, in dem es heißt: „Wir schlagen einen anderen Weg vor: Die Gründung eines Aktionskomitees, das auf der Tradition der Arbeiterräte basiert.
Schließt euch zusammen und wählt vertrauenswürdige und respektierte Kollegen, die euch vertreten und jederzeit über ihre Tätigkeit Rechenschaft ablegen.
Nehmt Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen in anderen Dienstleistungs-, Produktions- und Verwaltungsbereichen auf, tauscht Informationen aus und plant gemeinsame Aktionen. Knüpft Verbindung zu Arbeitern in anderen Ländern, nicht um die Sklavenarbeit erträglich zu gestalten und zu ‚humanisieren‘, sondern um sie abzuschaffen.“