Der Kandidat der Arbeiterpartei (PT), Luiz Inácio Lula da Silva, hat am Sonntag die Präsidentschaftswahlen in Brasilien gewonnen und den amtierenden faschistischen Präsidenten Jair Bolsonaro besiegt. Lula erhielt 60,3 Millionen Stimmen (50,9 Prozent) gegenüber 58,2 Millionen Stimmen (49,1 Prozent) für Bolsonaro. Dies war der geringste Vorsprung bei einer Präsidentschaftswahl seit 1989, der ersten Wahl nach dem Ende der brasilianischen Militärdiktatur von 1964-1985.
Obwohl beide Kandidaten einen Rekordwert an Stimmen erhielten, verweigerte ein Viertel der brasilianischen Wähler die Stimmabgabe, indem sie entweder nicht zur Wahl gingen (20,57 %) oder leere oder ungültige Stimmzettel abgaben (4,59 %).
Inspiriert vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und im Bestreben, in Brasilien ein „Capitol-Hill-Szenario“ zu wiederholen, hat Bolsonaro mit Unterstützung der Streitkräfte eine systematische Kampagne zur Diskreditierung des brasilianischen Wahlsystems geführt. Er wird zweifellos versuchen, die bei den Wahlen zutage getretenen Spaltungen auszunutzen, und er hat zwei Monate Zeit, seine Verschwörung zur Verhinderung des demokratisch gewählten Kandidaten und zur Einsetzung einer Diktatur bis zum Amtsantritt des Präsidenten am 1. Januar 2023 zu eskalieren.
Von den 27 brasilianischen Bundesstaaten, einschließlich des Bundesdistrikts, gewann Lula in 13 und Bolsonaro in 14 Distrikten. Lula erhielt die meisten Stimmen in den neun Bundesstaaten von Brasiliens verarmtem Nordosten, während Bolsonaro in allen Bundesstaaten des Mittleren Westens, des Südens und in drei der vier Bundesstaaten des Südostens gewann.
Bei der Wahl am Sonntag wurden auch die Gouverneure von 12 brasilianischen Bundesstaaten gewählt. Zusammen mit der rechtsgerichteten Partei União Brasil, deren Ursprünge auf die Regierungspartei aus der Zeit der brasilianischen Militärdiktatur zurückgehen, war die PT die Partei mit den meisten gewählten Gouverneuren. Sie gewann in den vier nordöstlichen Bundesstaaten, in denen sie bereits regierte, Bahia, Rio Grande do Norte, Piauí und Ceará. In São Paulo, dem größten und reichsten Bundesstaat Brasiliens, unterlag der Gouverneurskandidat der PT, Fernando Haddad, Bolsonaros Verbündetem, Tarcísio de Freitas.
Die Führer der imperialistischen Mächte und die „linken“ Präsidenten Lateinamerikas bejubelten Lulas Sieg. „Links“ sind diese jedoch nur im eigenen Selbstverständnis, tatsächlich handelt es sich um bürgerlich-nationalistische Politiker.
„Herzlichen Glückwunsch, lieber Lula, zu deiner Wahl, mit der ein neues Kapitel in der Geschichte Brasiliens beginnt“, schreibt der französische Präsident Emmanuel Macron auf Twitter. Bundeskanzler Olaf Scholz auf derselben Plattform: „Ich freue mich auf eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit.“ Im November letzten Jahres traf sich Lula mit Macron und Scholz auf einer Europareise, mit der er die Unterstützung seiner Kandidatur durch die europäischen imperialistischen Mächte absichern wollte.
US-Präsident Joe Biden schreibt: „Ich gratuliere Luiz Inácio Lula da Silva zu seiner Wahl zum nächsten Präsidenten Brasiliens nach freien, fairen und glaubwürdigen Wahlen. Ich freue mich darauf, die Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern in den kommenden Monaten und Jahren fortzusetzen.“ Auch die New York Times begrüßte Lulas Sieg, nachdem sie seine Kandidatur am Donnerstag in einem Leitartikel befürwortet hatte. Der Artikel trägt den Titel: „In Braziliens Präsidentschaftwahl entscheidet sich die Zukunft des Planeten“.
In seiner Rede nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses betonte Lula, dass er eine Regierung der nationalen Einheit mit der politischen Rechten bilden wolle, um Brasilien „wieder aufzubauen“. Sein Sieg sei das Ergebnis „einer großen demokratischen Bewegung, die sich über Parteien, persönliche Interessen und Ideologien hinweg gebildet hat, damit die Demokratie den Sieg davonträgt“.
Er erklärte, dass der Kampf gegen den Hunger die oberste Priorität seiner Regierung sei, und versprach, „den Dialog zwischen der Regierung, den Unternehmern, den Arbeitern und der organisierten Zivilgesellschaft wiederherzustellen“. Auch werde er „die Glaubwürdigkeit, Berechenbarkeit und Stabilität des Landes wiederherstellen, damit in- und ausländische Investoren wieder Vertrauen in Brasilien gewinnen“.
In Anerkennung der Bemühungen Lulas, die Unterstützung des Teils der Bourgeoisie zu gewinnen, der ihn ablehnt, und „eine Regierung jenseits der PT“ zu bilden, schloss die Börse von São Paulo am ersten Tag nach der Wahl im Plus und der Dollar im Minus.
Bezüglich der Amazonas-Politik gibt es in Lulas Rede eine Stelle, die ein Signal an die imperialistischen Regierungen darstellt, insbesondere an die von Macron und Biden, die Bolsonaros Umgang mit dem Regenwald kritisiert hatten. „Wir sind offen für eine internationale Zusammenarbeit zur Erhaltung des Amazonasgebiets, sei es in Form von Investitionen oder wissenschaftlicher Forschung“, erklärte Lula.
Auf der Avenida Paulista in São Paulo, wo Lulas Anhänger den Sieg des PT-Kandidaten feierten, erklärte Lula über Bolsonaro: „An jedem anderen Ort der Welt hätte mich der unterlegene Präsident bereits angerufen, um seine Niederlage einzugestehen, aber bisher hat er das nicht getan. Ich weiß nicht, ob er anrufen wird. Und ich weiß nicht, ob er das Wahlergebnis anerkennt.“
Zwei Tage lang nach Lulas Sieg am Sonntagabend weigert sich Bolsonaro, das Wahlergebnis zu kommentieren. Am Dienstag gab er dann eine kurze Erklärung ab, ohne aber seine Niederlage explizit einzugestehen. Sein ominöses Schweigen wird durch die Weigerung des Militärs verstärkt, die Ergebnisse der „parallelen Auszählung“ der Stimmen durch die Armee vor der Amtseinführung des neuen Präsidenten vorzulegen. Diese Intervention der Streitkräfte wurde auf der Grundlage falscher Behauptungen über die „Gefahr von Wahlbetrug“ eingeleitet.
In den kommenden Wochen werden die politischen Spannungen im brasilianischen Staat und in der Gesellschaft stark weiter anwachsen.
Bereits in der Woche vor der Wahl gab es neue Versuche von Bolsonaros Anhängern, die Legitimität der Wahlergebnisse in Zweifel zu ziehen. Am vergangenen Montag behaupteten Bolsonaros Wahlkampforganisatoren und sein Kommunikationsminister Fabio Faria, dass die Radiosender im Nordosten ihre Wahlaufrufe eingestellt hätten, um dem PT-Kandidaten einen Vorteil zu verschaffen. Politiker, die dem faschistischen Präsidenten nahestehen, darunter sein Sohn Eduardo Bolsonaro, nutzten diese Anschuldigung als Vorwand, um die Verschiebung der Wahlen zu fordern. Das Oberste Wahlgericht (TSE) stellte fest, dass die Anschuldigung durch keinerlei Beweise erhärtet wurde.
In einem eklatanten Versuch, den Wählern den Weg zu den Wahllokalen am Wahltag zu erschweren, führte die Bundespolizei für Straßenwesen (PRF) mehr als 600 Einsätze gegen öffentliche Verkehrsmittel durch, die Hälfte davon in den Staaten des Nordostens. Die Entscheidung, solche Blockaden zu organisieren, wurde am 19. Oktober direkt vom Präsidenten getroffen, der sich mit dem für die PRF zuständigen Justizminister traf.
Die PRF ignorierte provokativ eine Verfügung des Präsidenten des Wahlgerichts TSE, Alexandre de Morares, vom Tag vor den Wahlen, die eine Behinderung des Wähler-Transports untersagt. Die TSE versucht, eine Konfrontation zu vermeiden, indem sie erklärt, dass die unrechtmäßigen Aktionen das Wahlergebnis nicht beeinflusst hätten.
Bolsonaro und die Militärs suchen nach seiner Wahlniederlage nach einem Vorwand, um ihre autoritäre Agenda voranzutreiben.
Letzte Woche veröffentlichte die rechtsextreme Gazeta do Povo einen Artikel mit dem Titel „Das Militär befürchtet nach der Auszählung der Stimmen am Sonntag Unruhen auf den Straßen“. In dem Artikel heißt es: „Aktive und Reservisten, die mit Gazeta do Povo sprechen, sind der Meinung, dass eine eventuelle Niederlage Bolsonaros bei den Wahlen die Stimmung der Wähler weiter anheizen und sie zu Demonstrationen und Protesten gegen die TSE und den Obersten Gerichtshof (STF) auf die Straße bringen könnte.“ In diesem Fall, so der Bericht weiter, „wären die Streitkräfte dafür verantwortlich, die Ordnung durch eine Operation zur Gewährleistung von Recht und Ordnung [d.h. eine Intervention des Militärs im Inland] herzustellen.“
Weiter zitiert der Artikel den General a.D. Maynard Santa Rosa, ehemaligen Leiter des Sekretariats für strategische Angelegenheiten der Präsidentschaft der Republik zu Beginn der Regierung Bolsonaro, mit den Worten: „Ich halte es nicht nur für möglich, sondern für wahrscheinlich. Wenn ein Klima des Aufruhrs und des Konflikts entsteht, das der Kontrolle der zivilen Behörden entgleitet, kann es zum Eingreifen von Soldaten kommen. Das ist besorgniserregend. Ich denke, wir befinden uns in einem Klima der potenziellen Krise.“
Die ersten Demonstrationen dieser Art begannen kurz nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses, als Bolsonaro-Anhänger im ganzen Land Straßen blockierten, vor allem in Regionen, die von Teilen der Agrarindustrie und von Konzernen beherrscht werden, die mit dem faschistischen Präsidenten verbunden sind. Bis zum frühen Montagnachmittag wurden 81 Proteste auf Autobahnen in 14 Bundesstaaten Brasiliens registriert. Die Demonstranten, darunter viele selbständige Lastwagenfahrer, fordern vor allem ein Eingreifen des Militärs.
In Brasilia blockierte das Sekretariat für öffentliche Sicherheit des Bundesdistrikts den Verkehr auf der Esplanade der Ministerien, nachdem „in den sozialen Netzwerken ein möglicher, für diesen Ort geplanter Anschlag festgestellt worden war“. An der Esplanade befindet sich neben den Sitzen der Legislative und der Exekutive auch das Oberste Bundesgericht, eins der Hauptziele von Bolsonaros Drohungen.
Sollte Lula die Turbulenzen, die für die kommenden Monate erwartet werden, heil überstehen, wird er eine Regierung führen, die noch weiter rechts steht als seine beiden Vorgängerregierungen (2003-2011), und deren Politik außerordentlich instabil sein wird.
Die jüngsten Entwicklungen bestätigen die Warnungen der Sozialistischen Gleichheitsgruppe (GSI) in Brasilien vor den ernsten Gefahren für die brasilianische Arbeiterklasse. Notwendig ist die Mobilisierung der Arbeiterklasse unabhängig von der PT und ihren pseudolinken Anhängern, um der wachsenden Gefahr einer Diktatur zu begegnen.