Michael Rosen: „The Disappearance of Émile Zola“

Zola, Dreyfus und der Kampf gegen Antisemitismus

Der französische Schriftsteller Émile Zola (1840-1902) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des literarischen Naturalismus, der sich – mit unvermeidlichen Stärken und Schwächen – der getreuen Wiedergabe der unmittelbaren Wirklichkeit verschrieben hat.

Zolas zahlreiche Romane, insbesondere „Germinal“ und „Nana“, riefen im politischen, militärischen und religiösen Establishment und anderen reaktionären Kreisen in Europa Empörung hervor. Zolas Werke wurden regelmäßig als „schändlich“, „abscheulich“ und „pornografisch“ angeprangert. Die Bücher machten ihn aber auch zu einer Berühmtheit, die damals sehr bewundert wurde.

Michael Rosen, „The Disappearance of Émile Zola: A Story of Love, Literature, and the Dreyfus Case“ (2018)

Zola, der Romancier, Journalist und Dramatiker, ist auch für seine Rolle bekannt, die er im Kampf für die Verteidigung Alfred Dreyfus‘ spielte, dem jüdischen französischen Offizier, der 1894 zu Unrecht des Hochverrats beschuldigt und verurteilt wurde. Zolas langer offener Brief „J'accuse ...!“ (Ich klage an), der im Januar 1898 veröffentlicht wurde, erwies sich als entscheidend für die Mobilisierung des Widerstands gegen das antisemitische Komplott gegen Dreyfus.

Mehr als 125 Jahre später wirkt die Dreyfus-Affäre immer noch nach. Das liegt zum einen an der Hartnäckigkeit des Antisemitismus und dem Erstarken der extremen Rechten und der faschistischen Gefahr. Zweitens ist es keine Kleinigkeit, dass prinzipielle linke Gegner Israels heute zu Unrecht des „Antisemitismus“ beschuldigt werden, wenn sie das zionistische Regime, seine ethnischen Säuberungen seit 76 Jahren und den Völkermord anprangern, der seit 10 Monaten in Gaza stattfindet.

Der zeitgenössische Kontext verleiht einem schmalen Band, der vor einigen Jahren erschien, neue Bedeutung: „The Disappearance of Émile Zola: A Story of Love, Literature, and the Dreyfus Case” (Émile Zolas Verschwinden: Eine Geschte von Liebe, Literatur und dem Fall Dreyfus, 2018). Ein weiterer Ausdruck des anhaltenden Interesses am Fall Dreyfus ist Roman Polanskis Film „J'accuse“ (2019).

Michael Rosen, der Autor von „The Disappearance of Émile Zola“, ist vor allem für Kinderbücher bekannt. Er ist Professor für Kinderliteratur an der Universität London. Sein Buch ist ein Bericht über die fast elf Monate, die Zola nach seiner Verurteilung wegen Verleumdung im Zusammenhang mit „J‘accuse...!“ von Juli 1898 bis Juni 1899 im selbstgewählten Exil in Großbritannien verbrachte.

Es gibt drei Hauptstränge in dieser Erzählung. Erstens natürlich der Fall Dreyfus selbst. Zweitens die Komplikationen in Zolas Leben, insbesondere die ungewöhnliche Dreierbeziehung mit seiner Frau Alexandrine, mit der er seit 1864 ein Paar war, und seiner Geliebten, der Näherin Jeanne Rozerot, mit der er zwei Kinder hatte, seine einzigen Nachkommen. Und schließlich eine neue und sehr wichtige Untersuchung von Zolas Ansichten zu allgemeineren Themen, einschließlich des Sozialismus und der Zunahme des politischen Antisemitismus in Frankreich und anderswo in dieser Zeit.

Dreyfus wurde wegen Hochverrats verurteilt und unter brutalen Bedingungen auf die Teufelsinsel vor der Küste Französisch-Guayanas, in der nordöstlichen Ecke Südamerikas, ins Exil geschickt. Zola kam bald zu dem Schluss, dass Dreyfus unschuldig war und dass die Verurteilung auf gefälschten Dokumenten beruhte. Er stürzte sich in die Verteidigungskampagne und erregte damit den Zorn mächtiger Teile der französischen Führungsschicht. „J'accuse...!“ wurde mit der Absicht veröffentlicht, eine Verleumdungsklage zu provozieren, damit neue Beweise vorgelegt werden konnten. Die Verleumdungsklage war jedoch erfolgreich. Zola wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, die Ehrenlegion wurde ihm aberkannt, und er wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Auf das Drängen seines Anwalts und von engen Vertrauten hin floh er im Sommer 1898 widerwillig nach London, statt sich der Haftstrafe zu stellen.

Zola rechnete nicht damit, so lange von Frankreich, von seinen Angehörigen (obwohl Besuche arrangiert wurden) und von der Quelle seines kreativen Lebens entfernt zu sein. Er verfolgte den Fortgang des Prozesses aus der Ferne und wartete ungeduldig auf die Bedingungen, unter denen er nach Paris zurückkehren konnte.

Die Geschichte von Zola und seiner komplexen Beziehung zu den beiden Frauen in seinem Leben wird von Rosen so erzählt, wie es für eine wahrheitsgetreue Darstellung zweifellos erforderlich ist. Die Einzelheiten während der Zeit von Zolas Untertauchen, einschließlich einer genauen Untersuchung der Korrespondenz zwischen dem Schriftsteller und seiner Frau und seiner Geliebten, werden jedoch etwas unnötig detailliert dargestellt.

Die Affäre mit Jeanne, die als Näherin für Alexandrine arbeitete, begann 1888, und die gemeinsamen Kinder Denise und Jacques wurden 1889 bzw. 1891 geboren. Alexandrine erfuhr erst im November 1891 von der Beziehung, woraufhin die Verhältnisse sich zunächst explosiv gestalteten und Zolas Ehe in Gefahr geriet. Alexandrine gewöhnte sich langsam daran, dass Zola die Nachmittage mit seiner Geliebten und den Kindern verbrachte. Als Zola ins Exil ging, hatten sich die Dinge beruhigt. Wie Rosen schreibt, erreichte das „häusliche Arrangement (...) einen gewissen Grad an Ruhe“. Die Frauen kamen sich näher, vor allem nach Zolas Tod.

Émile Zola, Portrait von Nadar, 3. März 1898

Im Juni 1899 wurde Dreyfus‘ ursprüngliche Verurteilung aufgehoben, und Zola kehrte nach Paris zurück. Einige Monate später wurde Dreyfus ein zweites Mal verurteilt. Der Offizier, der bereits mehr als vier Jahre unter grausamen Bedingungen im Exil verbracht hatte, erklärte sich bereit, im Gegenzug für eine Begnadigung ein Schuldbekenntnis abzulegen, obwohl er seine Unschuld nach wie vor beteuerte.

Im Jahr 1906 wurde Dreyfus schließlich vollständig entlastet und wieder in sein Amt eingesetzt. Er lebte noch weitere 30 Jahre, bis 1935. Zola konnte jedoch nicht mehr erleben, wie Dreyfus und er selbst rehabilitiert wurden. Er starb im September 1902 an einer Kohlenmonoxidvergiftung, die durch einen nicht ordnungsgemäß belüfteten Schornstein in seinem Haus verursacht wurde. Rosen hält es, wie viele andere auch, zumindest für möglich, dass dieser Tod kein Unfall war, sondern auf Sabotage durch fanatische Anti-Dreyfusards zurückzuführen ist. 1908 wurden Zolas sterbliche Überreste im Panthéon beigesetzt, als Anerkennung für seine mutige Verteidigung von Dreyfus und seine literarischen Leistungen.

Durch die Darstellung von Zolas Rolle im Fall Dreyfus wirft dieses Buch viele Fragen von großer historischer Bedeutung auf, darunter die Rolle des politischen Antisemitismus in Frankreich, die Entstehung des Zionismus und die Rolle der sozialistischen Bewegung.

Der Aufstieg des modernen politischen Antisemitismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ergab sich aus der Zunahme des Klassenkampfes, der insbesondere nach dem Beispiel der Pariser Kommune von 1871 eine potenziell revolutionäre Bedrohung für den Kapitalismus darstellte. Der Antisemitismus, der sich weitgehend auf Elemente des Bürgertums stützte, diente dem Ziel, eine Massenbasis für die Verteidigung des Kapitalismus gegen die sozialistische Bewegung zu schaffen und die Arbeiterklasse zu spalten.

Die reaktionären Kräfte wiesen demagogisch auf die herausragende Rolle der Juden im Finanzwesen hin, um den Zorn der kleinbürgerlichen Massen von ihrem eigentlichen Feind auf die jüdische Bevölkerung als Ganzes abzulenken. Der Antisemitismus der Dreyfus-Ära verschwand nach seiner Entlastung nicht. Er tauchte in den 1930er Jahren unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise und mit dem Aufstieg der mörderischen Nazi-Diktatur in Deutschland wieder auf. Das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime in Frankreich war während des Zweiten Weltkriegs an der Deportation Zehntausender französischer Juden nach Auschwitz beteiligt. Rosen erklärt in seinem Nachwort, dass einer seiner Großonkel, Oscar 'Jeschie' Rosen, am selben Tag deportiert wie Dreyfus' Enkelin Madeleine Dreyfus Levy deportiert worden war.

Es ist kein Zufall, dass der Fall Dreyfus genau zur gleichen Zeit stattfand wie die Entstehung des Zionismus. Der österreichisch-ungarische jüdische Journalist Theodor Herzl, der zu dieser Zeit in Wien lebte, beobachtete die Verurteilung von Dreyfus und zog sowohl aus dem Fall Dreyfus als auch aus der allgemeinen Zunahme des Antisemitismus in Europa den Schluss, dass es für die Juden unmöglich sei, Gleichheit und volle Bürgerrechte zu erlangen, und dass die Lösung in der Gründung eines jüdischen Staates in Palästina liege. Herzl schrieb 1896 das Buch „Der Judenstaat“, und 1897 fand der erste Kongress der Zionistischen Weltorganisation statt. Der Zionismus war von Anfang an ein Projekt der jüdischen Bourgeoisie, das sich gegen die Arbeiterklasse richtete und dem Sozialismus und dem Ziel der sozialen Gleichheit feindlich gegenüberstand.

Die wachsende sozialistische Bewegung nahm den Kampf gegen den Antisemitismus und andere Versuche, die Arbeiterklasse zu spalten, auf. Wie David North in seinem Essay „Der Mythos vom ‚ganz gewöhnlichen Deutschen‘. Eine Kritik von Daniel Goldhagens ‚Hitlers willige Vollstrecker‘“ im Jahr 1997 festgestellt hat, übernahm die deutsche Sozialdemokratie, die mit Hilfe von Marx und Engels gegründet worden war und die stärkste Kraft der internationalen sozialistischen Bewegung darstellte, die Führung. „Abgesehen von demokratischen Prinzipien und moralischen Erwägungen“, schreibt North, „sah die Sozialdemokratische Partei in der Verbindung von Antisemitismus mit demagogischer antikapitalistischer Rhetorik einen Versuch, die Arbeiterklasse zu desorientieren und sie den politischen Vertretern der Mittelschicht unterzuordnen.“

Émile Zola, "J'accuse ...!" (Ich klage an) am 13. Januar 1898 auf der Titelseite der französischen Tageszeitung L'Aurore

Die französischen Sozialisten spielten im Fall Dreyfus eine wichtige Rolle, obwohl sie schwächer waren als ihre mächtigen deutschen Genossen. Jean Jaurès, der führende französische Sozialist, der von Dreyfus‘ Unschuld überzeugt war und im September 1898 ein umfangreiches Buch mit dem Titel „Les preuves: Affaire Dreyfus“ (Die Beweise: Die Dreyfus-Affäre) veröffentlichte, besuchte Zola im März 1899 in London.

Jaurès war in London, um an einer von der Sozialdemokratischen Föderation einberufenen Konferenz teilzunehmen. Der Autor zitiert Jaurès in einem Times-Bericht: „Es war absurd zu glauben, dass es unter dem gegenwärtigen kapitalistischen System, das selbst darauf basiert, den Krieg in der ganzen Welt ausbrechen zu lassen und den Zwist zwischen den arbeitenden Klassen der verschiedenen Länder zu fördern, einen allgemeinen Frieden geben könnte. Der Sozialismus war ihre einzige Hoffnung auf einen wahren Frieden.“

Der Autor berichtet über Zolas eigene politische Ansichten, die er in einem langen Interview mit dem in Österreich geborenen und in London lebenden Journalisten Max Beer zum Ausdruck brachte. Das Interview entstand einige Monate vor seinem Exil in London, aber nach der Veröffentlichung von „J'accuse...!“. Nach der Russischen Revolution trat Beer der Kommunistischen Partei Deutschlands bei. Der folgende Austausch aus dem Jahr 1899 ist von besonderer Bedeutung:

Beer: Ich stelle Ihre Beobachtungsgabe nicht in Abrede. Sie ist, wie alle Welt weiß, sehr umfassend; und Ihre Studien sind sorgfältig, aufrichtig und wissenschaftlich korrekt. Sie werden mir jedoch gestatten zu sagen, dass Ihre Beobachtung des jüdischen Lebens nicht weit genug ging. Sie hatten keine Gelegenheit, es in seiner Gesamtheit zu sehen.

Zola: In diesen letzten Monaten der Beklemmung habe ich viel über die Judenfrage nachgedacht. Und ich hatte auch allen Grund dazu (...) Meine Romane könnten sicherlich den Eindruck erwecken, dass ich den Juden vor allem als geldgierigen und luxusliebenden Menschen betrachtet habe. Mein jüngster Kampf hat mich jedoch gelehrt, dass es viele Juden gibt, die einer ganz anderen Kategorie angehören. Es gibt in der menschlichen Geschichte einige Faktoren, die stärker sind als Ethnie oder Religion.

Beer: Die wirtschaftlichen!

Zola: Eben ...

Beer: Es gibt überhaupt keine jüdische Frage, sondern es gibt einen Kampf zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel und den Eigentümern der Arbeitskraft. Dieser Kampf kennt weder Ethnie noch Religion. Es ist ein Kampf, der bewusst oder unbewusst in der ganzen zivilisierten Welt stattfindet. Schafft diesen Antagonismus ab, und es wird keine Dreyfus-Prozesse mehr geben.

Zola: Sie sprechen natürlich vom Sozialismus.

Beer verwies dann in dem Zeitungsartikel, in dem sein Dialog mit Zola veröffentlicht wurde, auf einen Auszug aus dem letzten Roman des französischen Schriftstellers, „Wahrheit“, den er als „vielleicht ein Echo“ seines Interviews bezeichnet: „Es gab wirklich keine Judenfrage – überhaupt nicht; es gab nur eine kapitalistische Frage – eine Frage des Geldes, das sich in den Händen einiger Vielfraße angehäuft hat und dadurch die Welt vergiftet und verrottet.“

Der französische Sozialist Jean Jaurès, 1904, Foto: Nadar

Berühmt wurden auch Zolas Worte: „Wann immer ich mich mit einem Thema beschäftige, stoße ich auf den Sozialismus“, die er bei anderer Gelegenheit niederschrieb.

Zolas Äußerungen zum Antisemitismus – seine Weigerung, die Welt in rein rassischen oder religiösen Begriffen zu sehen – lesen sich heute wie eine wortgewaltige Verurteilung des Zionismus und anderer Formen der Identitätspolitik. Das zionistische Regime beansprucht das „Recht“, für alle Juden zu sprechen, und betrachtet alle, auch Juden, die sich ihm widersetzen, als „Antisemiten“. In Wirklichkeit geht es genauso vor wie die tatsächlichen Antisemiten und arbeitet in Solidarität mit ihnen und mit den reaktionärsten Kräften auf der ganzen Welt zusammen.

Was die Identitätspolitik und die Rassenpolitik betrifft, so ist dieselbe Klassenlogik zu erkennen. Schwarze Nationalisten und ihre Anhänger vertreten die gegenteilige Ansicht von Zola, der zu Recht darauf bestand, dass es „in der menschlichen Geschichte einige Faktoren gibt, die stärker sind als Ethnie oder Religion“.

Zola war ein mutiger Mensch, ein Mann, der mehrere fortschrittliche Persönlichkeiten des kulturellen Frankreichs im 19. Jahrhundert zu seinem Freundeskreis zählte. Dazu gehörten, wie Rosen erklärt, der bahnbrechende Fotograf Nadar (Gaspard-Felix Tournachon, 1820-1910), der Zola dazu inspirierte, die Fotografie zu einem ernsthaften Hobby zu machen, und zwei Maler der impressionistischen und postimpressionistischen Epoche, Édouard Manet (1832-1883) und Paul Cézanne (1839-1906). Den letzteren kannte er seit seiner Kindheit.

Zola war kein Marxist, er interessierte sich, wenn auch eher schwach, für die Theorien von Fourier, dem französischen utopischen Sozialisten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber er hatte, wie die besten seiner Romane zeigen, durchaus Verständnis für die Not der Arbeiterklasse, und er war ein Gegner des Obskurantismus und der Reaktion. Seine Zusammenarbeit mit Jaurès spielte eine wichtige Rolle für Dreyfus‘ letztendliche Rehabilitation und im Kampf gegen den Antisemitismus. In der Art und Weise, wie Zola den Rassen- und Religionshass bekämpfte, kann er uns heute viel lehren.

Loading