Israel verstärkt Kontrolle über Dschenin und das gesamte Westjordanland

Aus gewaltigen Schuttbergen in Gaza 200 Leichen geborgen

Israel nutzt die erste Phase des Waffenstillstands im Gazastreifen, um den Krieg im Westjordanland zu verstärken.

Mit Grünem Licht der Trump-Regierung haben Soldaten und Sicherheitskräfte der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) eine massive Operation mit dem Schwerpunkt Dschenin gestartet. Nach Aussage des israelischen Außenministers Israel Katz markiert dies „einen Wechsel in der Sicherheitsstrategie der IDF in Judäa und Samaria“ [der biblische Name der Region, der von rechtsextremen Zionisten für das Westjordanland verwendet wird].

Israelische Militärfahrzeuge bewachen eine Straße im Flüchtlingslager von Dschenin im Westjordanland, auf der ein Militär-Bulldozer arbeitet, 22. Januar 2025 [AP Photo/Majdi Mohammed]

Der ultrarechte israelische Finanzminister Bezalel Smotrich macht die Absichten der Regierung deutlich: „Nach Gaza und Libanon haben wir heute mit Gottes Hilfe begonnen, das Sicherheitskonzept in Judäa und Samaria zu ändern“.

Smotrich soll als Gegenleistung dafür, dass er das Waffenstillstandsabkommen im Gazastreifen unterstützt, die Zusage erhalten haben, „Sicherheit“ im Westjordanland zu einem der offiziellen Kriegsziele Israels zu machen, berichten verschiedene Quellen.

Die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für die Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, Francesca Albanese, warnt unverblümt: „Als der lang erwartete Waffenstillstand in Gaza zustande kam, eskalierte Israels Todesmaschinerie den Beschuss im Westjordanland.“

Und weiter: „Wenn Israel nicht gezwungen wird, aufzuhören, wird der Völkermord an den Palästinensern nicht auf Gaza beschränkt bleiben. Merken Sie sich meine Worte.“

Diese Befürchtung wurde auch von UN-Generalsekretär Antonio Guterres geäußert, der eine unbegründet optimistische Aussage in Bezug auf die Waffenruhe mit der Bemerkung verband: „Die andere Möglichkeit ist, dass Israel sich durch seine militärischen Erfolge ermutigt fühlt und denkt, dies sei der richtige Moment, um die Annexion des Westjordanlandes durchzuführen und den Gazastreifen in einer Art Schwebezustand zu halten.“

Mindestens 10 Palästinenser wurden in Dschenin getötet und 40 verwundet. Die Zahl könnte noch viel höher sein, da Krankenwagen nicht zu den Verwundeten vordringen können. Nebal Farsakh, ein Sprecher des Palästinensischen Roten Halbmonds, sagte gegenüber Reportern: „Niemand kann den Ring um das Flüchtlingslager und die Umgebung durchbrechen.“ Die Organisation erklärte, sie sei „zutiefst besorgt“ mit Blick auf das Wohlergehen der Bewohner von Dschenin.

Die Taktik des verbrecherischen Völkermordes in Gaza wiederholt sich. Die israelischen Streitkräfte haben im Westjordanland das öffentliche Krankenhaus Khalil Suleiman umstellt. Der Leiter der Einrichtung, Wissam Bakr, erklärt gegenüber Reportern: „Die derzeitige Situation ist furchtbar. Die israelischen Streitkräfte haben die Straßen vor dem Krankenhaus zerstört. Sie haben die Trümmer der zerstörten Straßen vor die Ausgänge des Krankenhauses gelegt, um zu verhindern, dass Krankenwagen ein- oder ausfahren können.“

Zwei Krankenpfleger und drei Ärzte seien am Dienstag auf der Hauptstraße, die zu dem Gebäude führt, erschossen worden, sagt er. Er berichtet auch, dass 600 Mitarbeiter und Patienten nun so gut wie möglich im Krankenhaus untergebracht seien.

Bakrs Schilderung wird von Adel Besher bestätigt, der gegenüber Al Jazeera sagte: „Ich habe im Hof des Krankenhauses geschlafen. Obwohl mein Haus nur 200 Meter von hier entfernt ist, konnte ich es nicht erreichen.“

„Es gab viele Verletzte. Vier aus dem al-Amal-Krankenhaus wurden verwundet, darunter Ärzte, Krankenschwestern und Patienten. Es gab auch drei oder vier Verletzte in der Nähe meines Hauses, und niemand war in der Lage, sie zu retten.“

Und weiter: „Die israelischen Streitkräfte schossen auf jeden, der sich ihnen näherte. Zwei wurden verletzt, als sie versuchten, sie zu retten“.

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Wafa wurden die Bewohner mehrerer Stadtteile von Dschenin per Lautsprecher aufgefordert, ihre Häuser und die Stadt zu verlassen. Genaue Zahlen waren unter den Bedingungen der Belagerung schwer zu ermitteln. Dutzende von Menschen wurden festgenommen und inhaftiert.

Roland Friedrich, der Direktor des UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge) für das Westjordanland, beschreibt das Lager als „fast unbewohnbar, mit etwa 2.000 Familien, die seit Mitte Dezember vertrieben wurden. Das UNRWA war in dieser Zeit nicht in der Lage, das Lager vollständig zu versorgen“. Er sagt weiter, dass die Operation „unter Einsatz modernster Waffen und Kriegsführungsmethoden einschließlich Luftangriffen [...] voraussichtlich Tage dauern wird“.

Friedrich merkt an, dass die israelische Operation „folgt, nachdem es schon über mehr als einen Monat hinweg zu bewaffneten Zusammenstöße innerhalb des Lagers Dschenin zwischen PSF [Palästinensische Staatstruppen, die von der Palästinensischen Autonomiebehörde befehligt werden] und bewaffneten palästinensischen Akteuren gekommen ist“.

Laut Middle East Eye „stürmten Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde am Mittwoch das al-Razi-Krankenhaus in Dschenin und nahmen einen Verwundeten fest. Es soll sich dabei um ein Mitglied des Dschenin-Bataillons handeln, der von der israelischen Armee gesucht wird.“

„Bei der Razzia der Palästinensischen Autonomiebehörde scheinen palästinensische Kräfte erstmals sichtbar an einem israelischen Militärangriff im Westjordanland teilnahmen.“

Es ist zu befürchten, dass das Schicksal von Dschenin auch andere Städte im Westjordanland ereilen wird, da die israelischen Streitkräfte die Zahl der militärischen Kontrollpunkte massiv erhöht haben - auf fast 900 in dem gesamten Gebiet - und die Ein- und Ausgänge zu den wichtigsten Bevölkerungszentren abriegeln. Das Flüchtlingslager Aida wurde am Mittwoch gestürmt, und in Tulkarem sowie in den Städten Ramallah und el-Bireh wurden Razzien durchgeführt.

Aseel Baidoun, Mitglied der Hilfsorganisation Medical Aid for Palestinians in Ramallah, sagte dem britischen Guardian: „Seit zwei Tagen erleben wir eine umfassende militärische Abriegelung. Die israelische Armee hat Hunderte von neuen Kontrollpunkten errichtet, die den Verkehr zwischen den Städten fast unmöglich machen.“ […]

„Es ist ein Freiluftgefängnis; wir haben das Gefühl, dass wir uns nicht bewegen können. Wenn man von Ramallah nach Jericho gehen will, ist das unmöglich, und es ist fast unmöglich, die nahe gelegenen Dörfer zu erreichen. Es gibt nicht nur Bewegungseinschränkungen, sondern auch wahnsinnige Angriffe von Siedlern.“

Dutzende von maskierten Siedlern griffen am Montagabend die Dörfer Dschinsafut und Funduk in der Nähe von Jerusalem an. Sie brachten Material mit, um Gebäude und Autos in Brand zu setzen, und griffen drei Häuser, eine Gärtnerei und eine Schreinerei an. Außerdem warfen sie Steine und feuerten Schüsse ab. Ähnliche Angriffe fanden seitdem in den Dörfern Sindschil, Ein Sinija, Turmus Aja und Khirbet Akwiwis statt. Mindestens 21 Palästinenser wurden verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert, darunter ältere Menschen und drei Kinder.

Die Bewohner des Gazastreifens sind derweil damit beschäftigt, die 50 Millionen Tonnen Schutt zu durchsuchen, die von ihren zerstörten Städten übriggeblieben sind. 80 Prozent der Gebäude im nördlichen Gazastreifen sind zerstört, 300.000 Menschen sind obdachlos.

Angehörige und zivile Behörden suchen nach schätzungsweise 10.000 Leichen, die unter den Trümmern begraben sind. Seit Inkrafttreten des Waffenstillstands vor vier Tagen wurden mehr als 200 Leichen gefunden. Oftmals sind nur noch Teile des Skeletts zu finden.

Die Suche gehen nur langsam voran, unter anderem weil die IDF rund 100 Mitarbeiter der Zivilschutzbehörde getötet und viele ihrer Fahrzeuge zerstört hat. Außerdem finden die Arbeiten unter Beschuss statt. Am Mittwoch wurde der 28-jährige Akram Atef Zanun von einem israelischen Quadcopter erschossen und vier weitere Personen verwundet, als sie im Lager Schabura in Rafah Schutt aus ihren größtenteils zerstörten Häusern entfernten.

2.400 Hilfstransportern sind seit der Unterzeichnung des Waffenstillstands reibungslos in den Gazastreifen gefahren, was einen enormer Anstieg Versorgung mit Hilfsgütern bedeutet. Damit bestätigt sich aber auch, dass Israel den Fluss dieser lebenswichtigen Hilfsgüter über ein Jahr lang absichtlich eingeschränkt hat – und damit den Hunger und die Ausbreitung von Krankheiten als Kriegswaffe eingesetzt hat.

Der Brite Dr. James Smith, der als Freiwilliger im Al-Aksa-Krankenhaus in Gaza arbeitete, sagte gegenüber Al Jazeera: „Man muss unbedingt daran erinnern, dass ein Völkermord nicht mit einem Waffenstillstand endet, vor allem nicht mit einem so brüchigen Waffenstillstand wie diesem.“

„Er wird jetzt einfach mit anderen Mitteln fortgesetzt“, sagte er und verwies auf das zerstörte Gesundheitssystem des Gazastreifens.

Die palästinensische Journalistin und Korrespondentin Hind Khoudary berichtete: „Sie können sich nicht vorstellen, wie zerstört die Infrastruktur im gesamten Gazastreifen ist. Das Abwasser füllt die Straßen.“

„Mancherorts gibt es kein Wasser mehr. Die Entsalzungsanlagen funktionieren nicht mehr. Die Infrastruktur ist völlig zusammengebrochen.“

Israel hat das Verbot der UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNRWA angekündigt. Da die Frist näher rückt, droht die Region noch tiefer in die Katastrophe zu stürzen. Mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen sind auf das Hilfswerk angewiesen - und darüber hinaus auch hunderttausende Palästinenser im Westjordanland.

Ein Bericht des Friedensforschungsinstituts Oslo mit dem Titel „Consequences of the Israeli UNRWA Ban“ (Folgen des israelischen UNRWA-Verbots) warnt vor den katastrophalen Auswirkungen, die das Verbot der Organisation haben würde. Mitverfasser Jorgen Jensehaugen erklärt: „In weniger als einer Woche könnte der Zusammenbruch des Hilfswerks in den von Israel kontrollierten Gebieten die humanitären Maßnahmen im Gazastreifen lahmlegen.“

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