Nachdem im vergangenen Jahr die Berlinale zu heftigen politischen Auseinandersetzungen geführt hatte, weil die Regisseure des israelisch-palästinensischen Dokumentarfilms „No Other Land“ die Netanjahu-Regierung und ihre deutsche Unterstützung kritisierten, wurde die diesjährige Eröffnung des größten Publikumsfestivals mit Spannung erwartet.
Der 75. Geburtstag der großen Film-Show sollte ohne politischen Eklat stattfinden. Doch gleich zu Beginn der Veranstaltung verurteilte die mit dem Goldenen Ehrenbär ausgezeichnete Schauspielerin Tilda Swinton in einer bewegenden Dankesrede mit Blick auf den Gaza-Krieg den „staatlich verübten und international ermöglichten Massenmord“ und die gegenwärtige Kampagne für Massenabschiebungen von Flüchtlingen. Sie fordert Solidarität und Menschenrechte für alle, die Verteidigung der Berlinale als „grenzenloses“ und international orientiertes Kino und eine „Kultur im Widerstand“.
Die oscarprämierte schottische Schauspielerin Tilda Swinton ist seit vielen Jahren mit den Internationalen Filmfestspielen Berlin verbunden und spielte in 26 Filmen des Festivalprogramms mit, darunter Caravaggio, der 1986 den Silbernen Bären auf der Berlinale gewann, „The Beach“ (Der Strand, 2000), „Derek“ (2008), „Julia“ (2008), „The Garden“ (1991) und „Last and First Men“ (2020). International bekannt wurde sie 1992 mit ihrer Darstellung von Orlando nach dem Roman von Virginia Woolf unter der Regie von Sally Potter.
In ihrer 15-minütigen Rede lobte Swinton das internationale Festival dafür, dass die Teilnehmer weder einen Meldeschein noch ein Visum benötigen, und wandte sich an die junge Generation von Filmschaffenden: „Hier ist eine der besten Sachen, die jungen Menschen passieren können, die neugierig auf die Welt sind und wissen wollen, wie man in ihr lebt ... Es ist so gut, dass wir uns über die Welt wundern und von der Bewunderung füreinander überrascht werden, anstatt sprachlos über unsere rücksichtslose Gemeinheit und Grausamkeit zu sein.“
In bildhaften und poetischen Worten beschrieb sie das Kino als grenzenlosen Hort der Freiheit und Solidarität, die in der wirklichen Welt immer schwerer zu finden seien. Das Massaker in Gaza und die rechtsextreme israelische Regierung sprach sie nicht direkt an, aber der heftige Beifall machte deutlich, dass jeder im Saal wusste, was gemeint ist:
Das Unmenschliche wird unter unserer Aufsicht verübt. Ich bin hier, um es beim Namen zu nennen und all jenen meine unerschütterliche Solidarität zuzusichern, die es erkennen. Staatlich verübter und international ermöglichter Massenmord terrorisiert derzeit aktiv mehr als einen Teil unserer Welt.
Swinton setzte hinzu: „Von genau den Gremien verurteilt, die von den Menschen eigens zur Überwachung der Geschehnisse auf dieser Erde ins Leben gerufen wurden, die für die menschliche Gemeinschaft inakzeptabel sind“, und spielte damit auf die jüngsten Angriffe der Trump-Regierung auf den Internationalen Strafgerichtshof sowie auf die Attacken in Deutschland auf die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten Gebiete Palästinas Franzesca Albanese an, die gerade von deutschen Universitäten in München und Berlin ausgeladen wurde.
Auf die gesamte herrschende Politik von Krieg, Faschismus und sozialer Verwüstung gemünzt, fuhr sie fort „Unmenschliches wird unter unserer Aufsicht verübt. Ich bin hier, um es zu benennen, ohne Zögern oder Zweifel. Und meine unerschütterliche Solidarität all jenen zu geben, die die inakzeptable Selbstgefälligkeit unserer giersüchtigen Regierungen erkennen, die sich bei Planetenzerstörern und Kriegsverbrechern lieb Kind machen. Ganz gleich, woher sie kommen.“
Auf die jüngste Ankündigung Trumps, man wolle den Gaza-Streifen unter amerikanischer Besatzung zu einer „Riviera des Nahen Ostens“ machen, stellte Tilda Swinton das Gegenbild eines Kino-„Staats“ gegenüber. Dieser, so Swinton, sei „ein grenzenloses Reich ..., von Natur aus inklusiv, immun gegen Bemühungen der Besatzung, Kolonisierung, des Besitzes oder der Entwicklung von Riviera-Eigentum“.
Am Ende wandte sie sich unter anhaltendem Applaus an die jüngeren Filmschaffenden und versuchte sie zu ermutigen, in der heutigen Situation die Menschenrechte und eine „internationalistische Kinokultur“ zu verteidigen. Sie glaube an eine „Kultur im Widerstand“.
Im Vorfeld des Festival-Beginns sah sich die neue Berlinale-Leitung einem wachsenden politischen und finanziellen Druck seitens der Bundesregierung, dem Berliner Senat und Israel-nahen Kreisen wie der deutsch-jüdischen WerteInitiative e.V. gegenüber.
Im vergangenen Jahr hatte das Festival mit einem politischen Eklat geendet, als der Preis für den besten Dokumentarfilm sowie der Panorama-Publikumspreis dem israelisch-palästinensischen Film No Other Land verliehen wurden, der die Verbrechen der israelischen Armee und Regierung an der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland dokumentiert. Nach den Denunziationen des Films, des Regieteams und der Berlinale-Jury als „antisemitisch“ durch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) und den Berliner CDU-SPD-Senat trat die damalige Berlinale-Leitung unter Carlo Chatrian zurück.
Mittlerweile wurde „No Other Land“ international gefeiert und hat zahlreiche Preise auf renommierten Festivals erhalten, unter anderem in Kopenhagen, Schweiz, Warschau, Südkorea, Australien, Montreal/Kanada, Vancouver/USA. Gleichzeitig wurde er in den Kinos der USA und zum Teil in Deutschland dem Publikum vorenthalten.
Nachdem die US-Amerikanerin und erfolgreiche Chefin des Londoner Filmfestivals Tricia Tuttle die Leitung der Berlinale übernahm, geriet bald auch sie unter Druck. Das Berliner Hauptstadtportal berlin.de wiederholte im vergangenen Herbst die verlogene Anschuldigung des „Antisemitismus“ gegen „No Other Land“, musste diese jedoch zurückziehen, nachdem der israelische Regisseur des Filmteams Yuval Abraham eine Klage androhte. Sogar der deutsche Botschafter in Israel Steffen Seibert hatte auf einem X-Post diese Anschuldigung als „schlichtweg falsch“ bezeichnet.
Tuttle bezog in dieser Frage eine prinzipielle Position. Sie verteidigte den Film und erklärte, sie erachte „weder den Film noch die Statements, die die Co-Regisseure, der Palästinenser Basel Adra und der Israeli Yuval Abraham, während der Preisverleihung der Berlinale gemacht haben, als antisemitisch“. Zur Antisemitismus-Resolution, die im Bundestag letzten November verabschiedet wurde und die nun für zahlreiche Zensurmaßnahmen im Kultur- und Wissenschaftsbereich genutzt wird, erklärte die Berlinale-Leitung auf ihrer Website, sie sei „kein rechtsverbindliches Dokument“ habe „daher keinen Einfluss auf die Durchführung der Berlinale“ und sei zum Teil ein Eingriff „in die Grundrechte der Kunst- und Meinungsfreiheit“.
Darauf forderte die Regierungs- und Israel-nahe Organisation „deutsch-jüdische Werteinitiative“ den Stopp der staatlichen Förderung. Der Berliner Senat kündigte die Halbierung der Landeszuschüsse an.
In einem Versuch, weiteren Schaden von der Berlinale abzuwenden, setzte Tricia Tuttle durch, dass zur Eröffnung des Festivals dieses Jahr erstmals keine Politikerreden gehalten werden – weder von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), noch vom Regierenden Bürgermeister Berlins Kai Wegner (CDU). Zugleich unterstützte sie demonstrativ eine Mahnwache am Eingang des Berlinale Palastes für die Freilassung des israelischen Schauspielers David Cunio, der am 7. Oktober 2023 in die Geiselhaft der Hamas geraten war. Zur zeitgleich stattfindenden Demonstration, die mit Plakaten gegen den Völkermord und die Komplizenschaft der deutschen Regierung protestierte, gab sie keinen Kommentar ab.
Die bedrohliche Weltsituation mit der Wahl des Faschisten Trump in den USA, der unmittelbar die Aufkündigung der Regierungskoalition in Deutschland und eine hektische Neuwahl folgte, die zeitgleich mit der Berlinale stattfindet, hat Hoffnungen auf ein Festival ohne Konflikte und Politik zunichte gemacht. Nach der Rede von Tilda Swinton brach erneut eine wütende Attacke auf die Berlinale aus. Die Jüdische Allgemeine verlangte eine Entschuldigung der Berlinale, unterstützt vom Berliner Tagesspiegel.
Die scharfe Rechtswende der herrschenden Eliten weltweit, die Rückkehr zu Nationalismus, Krieg, Faschismus und sozialer Zerstörung bedroht auch die Kultur. Die mutige Rede von Tilda Swinton, die schon im Oktober 2023 einen Offenen Brief von über 2.000 prominenten Schauspielern, Regisseuren und Künstlern gegen das Massaker im Gazakrieg unterstützt hatte, zollte dieser Entwicklung Tribut.
Die Berlinale, die vor 75 Jahren gegründet wurde, ist das weltweit größte Publikumsfestival. Im vergangenen Jahr wurden über 400.000 Tickets verkauft. Immer wieder drückten sich in diesem Festival auch die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart aus. Dies ist auch in diesem Jahr so. Die Gefahr jedoch, dass staatliche Unterdrückung die Freiheit der Kunst zerstört, war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Nazi-Diktatur nie wieder so bedrohlich wie jetzt.
Einige der über 230 Filme der diesjährigen Berlinale befassen sich mit dieser reaktionären Entwicklung, und auch der Schock, die Verwirrung und wachsende Opposition in der Bevölkerung bahnen sich den Weg in einigen der Regiearbeiten.
Der Eröffnungsfilm „Das Licht“ von Tom Tykwer, dem Regisseur von Lola rennt und der Fernsehserie „Babylon Berlin“ ist ein Beispiel dafür. Im Zentrum steht der Zusammenbruch einer Familie der Mittelschicht, die sich bisher als fortschrittlich gedünkt hat, deren bisherige Vorstellung einer demokratisch-liberalen Entwicklung des Kapitalismus aber krachend zusammenbricht. Die WSWS wird diesen Film eigens besprechen.
Weitere Filme behandeln den sozialen Niedergang und die Auswirkung auf Familien und persönliche Beziehungen, andere die verlogene Flüchtlingspolitik in diesem Land oder den Rassismus und zunehmenden Rechtsextremismus in Staat, Polizei und Politik, wie die Dokumentationen Das Deutsche Volk und Die Mölllner Briefe. Zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und zum Gedenken an den Holocaust wird der neunstündige Film von Claude Lanzmann Shoah (1985) sowie ein neuer interessanter Film von Guillaume Ribot zu Lanzmanns Arbeit an seinem Standardwerk „Je n’avais que le néant – ‚Shoah‘ par Lanzmann“ gezeigt.