US-Präsident Donald Trump und Vizepräsident J. D. Vance lieferten sich am Freitag vor laufenden Kameras ein Wortgefecht mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, als dieser im Weißen Haus auftrat. Der offene Schlagabtausch zwischen ihnen brachte die Krise offen zum Ausdruck, die durch das Scheitern des Kriegs der USA und der Nato gegen Russland in der Ukraine und die wachsende Konfrontation zwischen den USA und den europäischen imperialistischen Mächten ausgelöst wurde.
Nachdem zuvor der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer zu Gesprächen ins Weiße Haus gereist waren, traf Selenskyj am Freitag dort ein. Ursprünglich sollte er in einer offiziellen Zeremonie ein Abkommen unterzeichnen, mit dem die Bodenschätze der Ukraine an die Vereinigten Staaten übergeben werden sollten.
Stattdessen wurden die Pläne zur Unterzeichnung des Abkommens verworfen und Selenskyj nach einer beispiellosen Konfrontation aus dem Weißen Haus verwiesen.
Während des 13-minütigen Gesprächs zeichneten Trump und Vance ein verheerendes Bild vom derzeitigen Stand des Kriegs der USA und der Nato gegen Russland. An Selenskyj gerichtet, sagte Vance: „Im Moment zieht ihr durch’s Land und zwingt Wehrpflichtige an die Front, weil ihr Personalprobleme habt.“
„Ihr seid in keiner guten Position“, fügte Trump hinzu. „Ihr riskiert das Leben von Millionen von Menschen. Ihr riskiert den Dritten Weltkrieg“. Er fügte hinzu: „Euer Land ist in großen Schwierigkeiten. Ihr seid nicht dabei zu gewinnen.“
Trump fuhr fort: „Wir haben euch durch diesen dummen Präsidenten [Joe Biden] 350 Milliarden Dollar an militärischer Ausrüstung gegeben. Ihr seid dort begraben. Euer Volk stirbt. Euch gehen die Soldaten aus.“
Auch wenn er Obama und Biden anprangerte, war Trump bemüht, sich selbst mit der Bewaffnung der Ukraine zu identifizieren. Er erklärte: „Obama hat euch Bettlaken gegeben. Ich habe euch Javelins gegeben.“ Er bezog sich damit auf moderne Panzerabwehrraketen, die die USA der Ukraine während der ersten Trump-Regierung lieferten.
Selenskyj öffentlich zu beschimpfen, war Trumps Versuch, an die Enttäuschung über den Krieg in der Ukraine zu appellieren, der außer bei Wählern der Demokraten aus der wohlhabenden Mittelschicht keine nennenswerte Unterstützung genießt.
Doch was auch immer Trumps Absichten gewesen sein mögen, der offene Schlagabtausch im Oval Office war ein Beleg für die tiefe Krise des US-Imperialismus, die im Scheitern des Ukraine-Kriegs besonders akut zum Ausdruck kommt.
Das Projekt, die Ukraine in einen Nato-Stützpunkt zu verwandeln, erstreckt sich mittlerweile über fünf Regierungen, die sowohl von den Demokraten als auch von den Republikanern geführt wurden. Angefangen mit der Äußerung der Bush-Regierung im Jahr 2008, dass die Ukraine Nato-Mitglied „werden wird“, haben die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten hunderte Milliarden Dollar ausgegeben und den ganzen Ruf des US-Imperialismus mit dem Projekt verknüpft, die Ukraine als Hebel zur Destabilisierung und – so die Hoffnung – zur Zerstörung Russlands einzusetzen.
Der Krieg in der Ukraine war das zentrale außenpolitische Projekt der Regierung Biden. Indem sie Russland in einen Krieg an seinen Grenzen hineinzog, hoffte die Biden-Regierung, das Nato-Bündnis unter der Vorherrschaft der USA vereinigen zu können. Einen Monat nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 erklärte Biden: „Die Nato war noch nie so vereint wie heute“.
Seit ihrer Gründung war die Nato darauf ausgerichtet, die imperialistischen Mächte Europas im Rahmen einer „Pax Americana“ zu vereinigen – zuerst gegen die Sowjetunion, dann gegen Russland. Dabei setzten die Vereinigten Staaten enorme Ressourcen ein, um als Schiedsrichter bei innereuropäischen und transatlantischen imperialistischen Spannungen zu fungieren.
Bidens Ziel, das Nato-Bündnis durch einen „heißen Krieg“ gegen Russland zu vereinen, war darauf ausgerichtet, die grundlegende Realität zu verschleiern, dass zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Nato-Verbündeten ein Graben entstanden ist, der sich immer weiter vergrößert.
Der Konflikt zwischen den imperialistischen Mächten steht heute im Mittelpunkt der Geopolitik. Die Verschärfung des Konflikts zwischen den USA und den europäischen Mächten erfolgt zu einem Zeitpunkt, an dem die Trump-Regierung auf die Krise der globalen Hegemonie der USA damit reagiert, die US-Außenpolitik neu auszurichten. Diese Neuausrichtung zielt darauf ab, den USA die Vorherrschaft über Nord- und Südamerika zu sichern, um eine Nachschubbasis für einen Krieg gegen China, den größten geopolitischen Konkurrenten des US-Imperialismus, zu schaffen.
Verteidigungsminister Pete Hegseth erklärte dazu letzten Monat:
Schroffe strategische Realitäten hindern die Vereinigten Staaten von Amerika daran, sich in erster Linie auf die Sicherheit Europas zu konzentrieren. … Die USA räumen der Abschreckung Chinas im Pazifik Priorität ein, sind sich dabei der Realität der Knappheit bewusst und gehen Kompromisse bei den Ressourcen ein.
Nur zwei Wochen vor seinem Amtsantritt, signalisierte Trump am 7. Januar einen möglichen Einsatz militärischer Gewalt, um Grönland zu annektieren, das ein Überseegebiet Dänemarks ist. Das Land ist sowohl Mitglied der Nato als auch der Europäischen Union.
Nur zwei Tage vor seinem Treffen mit Selenskyj kündigte Trump an, dass die Vereinigten Staaten Zölle in Höhe von 25 Prozent auf Waren aus der Europäischen Union erheben würden. Die EU sei gegründet worden, so Trump, „um die Vereinigten Staaten zu bescheißen“.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Der handelspolitische Sprecher der EU-Kommission, Olof Gill, sagte daraufhin: „Die EU wird entschlossen und unverzüglich gegen ungerechtfertigte Hindernisse für den freien und fairen Handel vorgehen.“
Der spanische Premierminister Pedro Sánchez fügte hinzu: „Wir werden unsere Interessen verteidigen, wenn unsere Volkswirtschaften mit Zöllen angegriffen werden, die völlig ungerechtfertigt sind und eine verborgene Bedrohung unserer wirtschaftlichen Souveränität darstellen.“
Das Wortgefecht im Weißen Haus am Freitag goss jedoch Öl in das Feuer, von dem das Nato-Bündnis verschlungen wird. „Heute wurde deutlich, dass die freie Welt einen neuen Anführer braucht“, sagte die Spitzendiplomatin der Europäischen Union, Kaja Kallas, in einer Rede. Der ehemalige französische Präsident François Hollande fügte hinzu: „Die Trump-Regierung ist nicht länger unser Verbündeter“.
Anfang der Woche berichtete der britische Telegraph, dass Deutschland und Frankreich Gespräche über die Stationierung französischer Atombomber in Deutschland führen, „da die USA drohen, ihre Streitkräfte vom Kontinent abzuziehen“.
Trumps Bemühungen um eine Neuausrichtung der US-Außenpolitik haben im politischen Establishment der USA eine Krise ausgelöst. Trumps Kurswechsel wird von Teilen der Bourgeoisie zutiefst abgelehnt. Diese sind der Ansicht, dass es katastrophale Folgen für den weltweiten Einfluss der USA hätte, wenn Washington den Konflikt mit Russland aufgibt und die Nato auseinander bricht. Sie unterstützen Trumps Angriff auf Sozialprogramme und demokratische Rechte, doch diese Angelegenheit hat direkte Auswirkungen auf die globale Vorherrschaft des amerikanischen Imperialismus.
„Der Gewinner des Spektakels zwischen Trump und Selenskyj ist Putin“, hieß es im Leitartikel des Wall Street Journal, das Trumps Politik ansonsten voll und ganz unterstützt hat. In der Zeitung war weiter zu lesen, dass der Krieg in der Ukraine den USA die Möglichkeit gegeben habe, Russland zu untergraben, „ohne dass US-Soldaten je auch nur einen Schuss abgeben mussten“. Dieses „Kerninteresse hat sich nicht geändert, doch die Ukraine vor der ganzen Welt zu beschimpfen, wird es schwieriger machen, es zu erreichen.“
Elissa Slotkin, die führende „CIA-Demokratin“ im US-Senat, gab eine Erklärung ab, in der sie die Befürchtung zum Ausdruck brachte, dass die Konfrontation mit Selenskyj „kein guter Tag für irgendjemanden außer Putin - oder vielleicht Xi Jinping“ sei. Mit anderen Worten: eine Kehrtwende in der Ukraine würde den amerikanischen Imperialismus in seinem Konflikt mit China eher schwächen als stärken. Slotkin wurde jüngst dafür ausgewählt, als Reaktion auf Trumps Rede vor einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses am kommenden Dienstag die Gegenrede zu halten.
Im politischen Establishment der USA gibt es keine Gruppe, die gegen Krieg ist. Die Demokratische Partei steht für eine Eskalation des Kriegs gegen Russland. Trump hingegen verfolgt das Ziel, ein US-Kolonialreich zu errichten, um die Voraussetzungen für einen Konflikt mit China zu schaffen. Der Konflikt mit den europäischen imperialistischen Mächten wird dadurch weiter befeuert werden.
In dieser sich verschärfenden Krise muss die Arbeiterklasse eine unabhängige, internationalistische Position einnehmen. Sie darf sich nicht mit der einen oder anderen Fraktion der herrschenden Klasse in irgendeinem Land verbünden. In jedem Land besteht der einzige Weg für Arbeiter darin, sich unter dem Banner des sozialistischen Internationalismus zu vereinigen, der den Kriegsplänen der imperialistischen Mächte die internationale Einheit der Arbeiterklasse entgegenstellt.