73. Berlinale: Disco Boy – ein faszinierender Film gegen Nationalismus und Krieg

Der Film Disco Boy, der auf der diesjährigen Berlinale seine Weltpremiere feierte, ist ein faszinierender Antikriegsfilm. Er setzte einen Kontrapunkt zur lauten Kriegspropaganda, der sich das Festival zu seiner Schande selbst unterordnete, als es den ukrainischen Präsidenten Selenskyj zur Eröffnung eine Videoansprache halten ließ.

Franz Rogowski in "Disco Boy" [Photo by Films Grand Huit]

Der junge süditalienische Regisseur Giacomo Abbruzzese, bekannt durch eine Reihe prämierter Kurzfilme, darunter Stella Maris, Archipel, Fireworks sowie den mit einem César ausgezeichneten Dokumentarfilm America, erzählt in seinem Spielfilmdebüt von Aleksei aus Belarus (Franz Rogowski), der mit seinem Freund Mikhail (Michał Balicki) und einer Gruppe Fußballfans nach Polen reist, um von dort nach Frankreich zu fliehen. „La France“, rufen sie fröhlich aus dem Fenster eines Lastwagens, der sie bis zur Grenze mitnimmt, „Bordeaux! Pain au Chocolat! Camembert!“

Doch schon der Versuch, mit einer Luftmatratze über einen Grenzfluss zu paddeln, endet tragisch. Mikhail stirbt, als ein Patrouillenboot das Feuer eröffnet. Aleksei zieht allein weiter und bewirbt sich bei der französischen Fremdenlegion, was ihm eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre verschafft. Danach winkt die Aussicht, die französische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

„Es ist mir egal, wer ihr wart“, so der Ausbilder, „hier bekommt jeder eine neue Chance, wer mit Muskeln und Herz Franzose werden will.“ Was das bedeutet, wird schnell klar. Aleksei gewinnt neue Freunde und Kameraden, doch sie werden auf brutale Einsätze vorbereitet und zum Töten gedrillt.

Perspektivwechsel – ein Rebellenführer im Nigerdelta, sein Dorf im Dschungel und Sumpf, am Horizont Dämpfe aus den Rohren eines großen Ölraffinerie-Komplexes.

Jomo (Morr Ndiaye), ebenso jung wie Aleksei, führt eine Gruppe von MEND (Movement for the Emancipation of the Niger Delta) im Kampf gegen Ölkonzerne, die im Bund mit der korrupten nigerianischen Regierung die Region verwüsten und die Bewohner versklaven.

Anders als seine Schwester Udoka (Laëtitia Ky), die lieber das Dorf verlassen und in die Stadt gehen will, mobilisiert Jomo den Widerstand. Bei einer Versammlung seiner Mitstreiter ruft er: „Wir wollen nicht länger die zweite Backe hinhalten wie unsere Vorfahren. Wir wollen nicht Sklaven sein.“ Er verweist auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Dorfbewohner durch die Ölkonzerne. Bald werde nur noch eine verwüstete Landschaft übrigbleiben.

Jomo weiß, wovon er spricht. Seine Rede hat sehr reale Grundlagen. Experten schätzen die gegenwärtige Situation im Nigerdelta als Ölkatastrophe ein. Sie gehen davon aus, dass seit 50 Jahren über zwei Millionen Tonnen Rohöl beispielsweise durch defekte Pipelines und Bohrinseln ausgelaufen und das Ökosystem in diesem Gebiet verschmutzt haben. Die Lebenserwartung der 30 Millionen Bewohner sei dadurch um zehn Jahre gesunken.

Die üblichen Klischees in offiziellen Medien und Blockbuster-Filmen, die lokale Guerillagruppen als rückschrittlich und religiös verbohrt darstellen, weist der Film zurück. Eine amerikanische Journalistin, die ein entsprechendes Interview machen will, wird von Jomos Gruppe an der Nase herumgeführt. Sie posieren in der erwünschten Form: volle Kampfmontur, vermummt, Kalaschnikow im Anschlag. Ein paar martialische Worte von Jomo, dann schießt einer in die Luft, und die Journalistin verlässt panisch den Ort. Die Jugendlichen ziehen ihre Vermummungsmasken ab und brechen in Lachen aus.

Jomo ist wie Aleksei ein aufgeweckter, lebenslustiger junger Mann, voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Als er mit einem Freund im Boot die Gewässer durchstreift, unterhalten sich die beiden scherzend: „Was würdest du tun, wenn du als Weißer in einer Stadt geboren wärest, Geld und eine gute Schulausbildung hättest?“ fragt sein Freund. Jomo lacht, „ich weiß nicht“, sagt er, „vielleicht würde ich gerne Tänzer werden, ein Disco Boy“.

Nicht zufällig ist diese Bemerkung zum Filmtitel geworden: Sie stellt der Grausamkeit des Kriegs den Ruf nach Freiheit und Lebensfreude entgegen.

Nach einer Geiselnahme von Ölmanagern verschränkt sich Alekseis und Jomos Schicksal. Beim militärischen Sondereinsatz der französischen Fremdenlegion kommt es zum Zweikampf zwischen beiden. Abbruzzeses Darstellung ist meisterhaft. Er präsentiert keine naturalistische blutige Gewaltdarstellung. Stattdessen lässt eine Wärmekamera ein surreales Bild entstehen, wenn Aleksei ins nächtliche Gewässer taucht: ein gespenstiger, bleicher Dschungel, davor ein wilder Strudel roter und weißer Flecken der miteinander ringenden Körper.

Jomo stirbt und Aleksei zieht ihn an Land. Die weit aufgerissenen Augen Jomos in Großaufnahme, in denen die Farben wechseln, lassen Aleksei – und auch den Zuschauer – nicht los, bis Aleksei ihm sanft die Augen zudrückt. Mit einem Ohr am Mobilgerät, das die Verbindung zum oben kreisenden Hubschrauber der Einsatzleitung herstellt, beginnt er mit seiner Hand, die Erde aufzuwühlen, um Jomo zu begraben.

Das Geschehen verfolgt Aleksei, wenn er in die Kaserne zurückkehrt. Beim ausgelassenen Tanz seiner Kameraden in einer Pariser Disco sondert er sich ab und sucht das Mädchen, die in der Nachtbar einen geheimnisvollen afrikanischen Tanz vorgeführt hatte. Er sieht in ihr Jomos Schwester Udoka.

Am Ende trifft Aleksei eine mutige Entscheidung. Als er sich weigert, beim Aufmarsch der Truppe in den Gesang mit Edith Piafs Lied „Je ne regrette rien“ einzustimmen, weist ihn sein Kommandeur zurecht und versucht, ihm die Brutalität des Kriegs als lohnend darzustellen. Schließlich bekäme er in fünf Jahren einen französischen Pass, könne sich in eine französische Frau verlieben, Kinder haben und diese zu einer guten Schule schicken. Doch Aleksei dreht ihm den Rücken zu, legt seine vorläufige Aufenthaltserlaubnis in den Spind und lässt sie mitsamt der Uniform in Flammen aufgehen.

Zurück in der Disco, tanzt er schemenhaft im Vordergrund einer wogenden Menge zu elektronischen Rhythmen. Es ist der Tanz von Udoka und Jomo, dieselbe federnde Bewegung, voll Spannung und ausgreifend von unten nach oben. Udoka steigt von der Bühne herab. Ihr schwingender Körper bildet mit Alekseis eine Einheit.

Es ist eine klare Antikriegsbotschaft – Freiheit und eine Perspektive für die junge Generation heißt, gemeinsam zu tanzen oder, im übertragenen Sinne, zu handeln, statt sich gegenseitig in den Krieg treiben zu lassen. Es ist ein Film für internationale Vereinigung und gegen Nationalismus. Der Krieg dient der superreichen Minderheit in den Konzernen, an den Finanzmärkten und, wie im Film, der internationalen Ölindustrie.

Kamerafrau Hélène Louvart und Regisseur Giacomo Abbruzzese mit dem Silbernen Bären für eine Herausragende Künstlerische Leistung [Photo by Richard Hübner / Berlinale 2023]

In einer Stellungnahme für die Berlinale erklärte Giacomo Abbruzzese: „Wir sind daran gewöhnt, dass der Krieg aus einer einzigen Sichtweise erzählt wird. Der Andere, der Feind, existiert selten als komplexes Gebilde.“ Und weiter: „Ich wollte das Grauen des Krieges zeigen, indem ich beiden Lagern die gleiche emotionale Würde zugestand. Ich wollte weg von den Stereotypen von Männlichkeit und Gewalt, die viele Kriegsfilme prägen.“

Sein Film entfalte sich „in einer porösen Gegenwart unter dem ständigen Druck der Vergangenheit, die sich manchmal psychologisch, manchmal in Form von Halluzinationen, Träumen oder übernatürlicher Ereignisse zeigt und den Kategorisierungen entzieht“, erläutert er seine filmische Methode.

Giacomo Abbruzzese kann selbst auf einige Jahre in Ländern zurückblicken, die von Kriegen und Bürgerkriegen beherrscht sind. 1983 geboren in Tarent in Apulien, studierte er in Bologna und an der Filmhochschule Le Fresnoy in Frankreich. Er arbeitete als Fotograf im Nahen Osten, war eine Zeitlang künstlerischer Leiter des palästinensischen Fernsehsenders AQTV und lehrte später Drehbuchschreiben und Filmschnitt an der Hochschule Dar Al-Kalima in Bethlehem im Westjordanland

Sein Film Disco Boy ist ernsthafter und ehrlicher als manch andere Antikriegsfilme. Er wendet sich gegen das demoralisierte Menschenbild, wonach ein Ende der Kriege aussichtslos sei.

Disco Boy zeigt dagegen mit Sensibilität und mit eindrucksvollen künstlerischen Mitteln die Möglichkeit einer Überwindung nationaler Grenzen und ethnischer Unterschiede. Zudem verweist er auf die Kräfte, die dagegenstehen – mächtige Konzerne, die ihre Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen versuchen.

Bei der Preisverleihung der Berlinale wurde die Kameraführung von Hélène Louvart verdientermaßen mit dem Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung ausgezeichnet. Der Film hätte jedoch nach Auffassung der Autorin auch für Regie und Drehbuch einen Bären verdient. Damit hätte allerdings die Internationale Jury der anfänglichen Stellungnahme des Berlinale-Festivals für den Stellvertreterkrieg der Nato in der Ukraine gegen Russland widersprechen müssen.

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