Dies ist der erste Teil einer vierteiligen Erklärung. Teil zwei wurde am 5. Januar veröffentlicht, Teil drei am 6. Januar und Teil vier am 8. Januar.
1. Das neue Jahr 2024 beginnt unter Bedingungen einer eskalierenden internationalen Krise. Zu Beginn des Jahrtausends gab es rosige Vorhersagen, dass der Weltkapitalismus unter der wohlwollenden und „unipolaren“ Herrschaft der Vereinigten Staaten in eine neue Epoche des weltweiten Friedens und Wohlstands eintreten würde. Mit der Auflösung der Sowjetunion waren die Dämonen des „kurzen 20. Jahrhunderts“ – vor allem die Gespenster des Marxismus und der sozialistischen Revolution – ein für allemal begraben. Die Wall Street rief der Welt (mit den Worten von Percy Bysshe Shelley) zu: „Mein Name ist Kapitalismus, König der Könige, seht mein Werk an, ihr Mächtigen, und verzweifelt!“ Es hat nicht einmal ein Vierteljahrhundert gedauert, dass diese arrogante Prahlerei auf kolossale Weise Schiffbruch erlitten hat. Das neue Jahrhundert des triumphierenden Kapitalismus hat sich als das kürzeste von allen erwiesen. Die grundlegenden Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems, die zu den Kriegen und Revolutionen des 20. Jahrhunderts geführt haben, wurden nicht gelöst und sind nach wie vor die treibenden Kräfte der sich verschärfenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umwälzungen, die über den Globus hinwegfegen.
2. Die Schrecken, die die Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts hervorgebracht haben, vollziehen sich erneut. Völkermord wird unverblümt als Instrument der Staatspolitik eingesetzt. Der Versuch des israelischen Regimes, die palästinensische Bevölkerung in Gaza zu vernichten, wird von den Vereinigten Staaten und ihren imperialistischen Verbündeten, die sich wiederholt gegen einen Waffenstillstand ausgesprochen haben, offen gebilligt. Ein dicht besiedeltes Stadtgebiet ist einem gnadenlosen Bombardement ausgesetzt, bei dem in den ersten 10 Wochen des Krieges mehr als 25.000 Menschen, zumeist Frauen und Kinder, getötet wurden.
3. Der faschistische Premierminister Israels, Benjamin Netanjahu, erklärte in seiner Neujahrsbotschaft, dass der Angriff das ganze Jahr 2024 andauern wird. Ohne die uneingeschränkte finanzielle und militärische Unterstützung der Vereinigten Staaten und ihrer Mitverbrecher innerhalb der Nato könnte Israel den Krieg nicht einmal eine weitere Woche fortsetzen – von einem Jahr ganz zu schweigen. Der US-Präsident, der Außenminister, zahllose andere hohe Vertreter der US-Regierung und hochrangiges Personal des US-Verteidigungsministeriums reisen zwischen Washington und Tel Aviv hin und her, um die israelischen Operationen zu überwachen und sich an der Auswahl der Bombenziele zu beteiligen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Vertreter der USA und der Nato direkt in die mörderischen Aktionen in Gaza verwickelt sind.
4. Dass die imperialistischen Mächte einen Völkermord offen unterstützen und sich daran beteiligen, hat mehr zu bedeuten als ihre sonst üblichen Verstöße gegen die Menschenrechte, die sie laufend vor sich her tragen. Der Völkermord in Gaza bestätigt auf höherer Ebene eine Tendenz, die Lenin erstmals vor mehr als einem Jahrhundert inmitten des Ersten Weltkriegs feststellte. Er schrieb 1916: „Der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie verwischt sich gerade deshalb, weil die eine wie die andere bei lebendigem Leibe verfault.“ Man ersetze den Begriff „monarchistisch-reaktionär“ durch „faschistisch“ und Lenins Analyse ist als Beschreibung heutiger imperialistischer Regime vollkommen gültig.
5. Der Völkermord in Gaza ist keine vereinzelte Episode, die vor allem als Ergebnis außergewöhnlicher Umstände im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt sowie dem reaktionären Charakter des zionistischen Projekts und dessen rassistischer und nationalistisch-fremdenfeindlicher Ideologie zu verstehen ist. Letzteres spielt beim Vorgehen des israelischen Regimes natürlich eine wichtige Rolle. Doch die hemmungslose Grausamkeit des gegenwärtigen Kriegs, der mit voller Unterstützung der imperialistischen Zahlmeister und Waffenlieferanten Israels geführt wird, kann nur im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des imperialistischen und in rivalisierende Nationalstaaten gespaltenen Weltsystems verstanden und erklärt werden.
6. Der grundlegende „Fehler“ der Strategen des amerikanischen Imperialismus bestand darin, dass sie die Auflösung der Sowjetunion rein ideologisch erklärten, d. h. als Triumph des Kapitalismus über den Sozialismus. Diese Erklärung, die auf der falschen Gleichsetzung von Stalinismus und Sozialismus beruhte, verhüllte jedoch die wahre Ursache des Zusammenbruchs der Sowjetunion und dessen Auswirkungen auf die künftige Entwicklung des amerikanischen und des Weltimperialismus.
7. Ungeachtet ihrer tragischen Folgen bestätigte die Auflösung der UdSSR die grundlegende marxistisch-trotzkistische Kritik an der stalinistischen Politik des „Sozialismus in einem Land“. Die reaktionäre nationalistische Utopie eines isolierten sozialistischen Staats fiel, wie Trotzki vorausgesagt hatte, der Realität der Weltwirtschaft zum Opfer.
8. Das Ende der UdSSR verschaffte den Vereinigten Staaten einen kurzfristigen Vorteil gegenüber ihren Rivalen, den die Propagandisten der USA als „unipolaren Moment“ bezeichneten. Doch der grundlegende Widerspruch, der zu den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts geführt hatte – der Konflikt zwischen der objektiven Realität einer hochgradig integrierten Weltwirtschaft und dem Fortbestand des historisch überholten Systems der Nationalstaaten – war durch den Untergang der UdSSR und ihrer Satellitenregime in Osteuropa nicht gelöst worden.
9. Die Vereinigten Staaten versuchten, ihren geopolitischen Vorteil zu nutzen, um eine globale Vorherrschaft auf einem Niveau zu erlangen, das ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg infolge der entscheidenden Rolle der Sowjetunion bei der Niederlage Nazideutschlands sowie der Welle antikolonialer Massenbewegungen verwehrt geblieben war. Washington war überzeugt, dass es die Weltwirtschaft durch seine militärische Macht endlich unter seiner Kontrolle neu ordnen konnte. Thomas Friedman von der New York Times, der Lieblings-Gelehrte des US-Imperialismus, verkündete 1999: „Die versteckte Faust, die die Welt für die Technologien des Silicon Valley schützt, heißt United States Army, Air Force, Navy und Marine Corps …“.[1]
10. Die endlose Serie von Kriegen, die die USA auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Zentralasien führten, waren ein verzweifelter Versuch, ihre Vormachtstellung trotz ihres allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs aufrechtzuerhalten. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale erläuterte die Beweggründe für die Invasion des Irak im Jahr 2003 und sah das Scheitern des hegemonialen Machtstrebens voraus:
Der Angriffskrieg gegen den Irak ist der letzte, auf die Spitze getriebene Versuch, den welthistorischen Widerspruch zwischen dem globalen Charakter der Produktivkräfte und dem archaischen Nationalstaatensystem unter imperialistischen Vorzeichen zu lösen. Die von Amerika vertretene Lösung dieses Problems sieht vor, die eigene Nation über alle anderen zu stellen und die Entscheidungsgewalt über das Schicksal der ganzen Welt zu beanspruchen – insbesondere über die Verteilung der weltwirtschaftlichen Ressourcen, nachdem sich die USA den Löwenanteil gesichert haben. Doch diese imperialistische Lösung für die tieferen Widersprüche des Weltkapitalismus, die bereits 1914 völlig reaktionär war, ist mit der Zeit nicht besser geworden. Schon allein aufgrund des Ausmaßes der weltwirtschaftlichen Entwicklung im 20. Jahrhundert nimmt sich dieses imperialistische Projekt als reiner Wahnsinn aus. Jeglicher Versuch, einem einzelnen Nationalstaat die Vormachtstellung zu sichern, ist unvereinbar mit dem hohen Maß an internationaler wirtschaftlicher Verflechtung. Der zutiefst reaktionäre Charakter eines solchen Vorhabens drückt sich in den barbarischen Methoden aus, die zu seiner Verwirklichung erforderlich sind.[2]
11. Der Völkermord in Gaza ist ein Beispiel für die „barbarischen Methoden“, die sich aus den zunehmend verzweifelten und wackeligen Bemühungen der Vereinigten Staaten und ihrer Nato-Verbündeten ergeben, ihre Vormachtstellung aufrechtzuerhalten. Die USA und ihre Verbündeten sehen ihre Hegemonie durch China sowie weitere aufsässige Nationalstaaten herausgefordert, deren Interessen mit Washingtons „regelbasierter“ imperialistischer Ordnung in Konflikt stehen. Das Abschlachten der Palästinenser geschieht inmitten des blutigen Stellvertreterkriegs der USA und der Nato gegen Russland, der seit seinem Ausbruch im Februar 2022 etwa eine halbe Million Ukrainer und mindestens 100.000 Russen das Leben gekostet hat.
12. Der Krieg in Gaza hat den Völkermord als akzeptables Mittel der imperialistischen Politik normalisiert. Ebenso ging die unerbittliche Eskalation des US-Nato-Kriegs gegen Russland damit einher, dass praktisch akzeptiert wurde, dass der Einsatz taktischer und strategischer Atomwaffen als Folge des Konflikts in hohem Maße möglich, ja sogar wahrscheinlich ist. Die Biden-Regierung verhängt regelmäßig Sanktionen und dirigiert militärische Angriffe auf russische Einrichtungen und Gebiete, die während des Kalten Kriegs verworfen worden wären, da sie nukleare Vergeltungsmaßnahmen hätten auslösen können. Indem sie wiederholt „rote Linien“ überschritten haben, stellten die Biden-Regierung und ihre Nato-Verbündeten klar, dass sie sich bei der Durchführung militärischer Operationen nicht von der Gefahr eines Atomkriegs einschränken lassen werden.
13. Obwohl der US-Nato-Imperialismus die Ukraine beinahe vollständig ausgeblutet hat, ist es ihm bisher nicht gelungen, einen Sieg auf dem Schlachtfeld zu erringen. Seine viel gepriesene „Frühjahrsoffensive“ Mitte 2023 endete in einem Debakel. In den letzten Tagen des vergangenen Jahres eskalierte das ukrainische Regime den Krieg erheblich, indem es russischen Boden mit Raketen beschoss. Bei dem Angriff starben in der Stadt Belgorod mindestens 22 Menschen. Russland hat mit einer neuen Welle von Raketenangriffen auf die Ukraine reagiert, was die Regierung Biden wiederum ausnutzt, um ihre Forderungen nach einer weiteren unbegrenzten Finanzierung des Stellvertreterkriegs durchzusetzen.
14. Letzten Endes ist der von den USA und der Nato angezettelte Krieg gegen Russland nichts anderes als eine Vorbereitung auf einen Krieg der USA gegen China, bei der jeder Teil der Welt in ein spezifisches Operationsgebiet verwandelt wird. Vor fast 20 Jahren, im Jahr 2006, warf das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) eine Reihe von Fragen bezüglich der globalen Politik der Vereinigten Staaten auf, darunter die folgenden:
Werden die Vereinigten Staaten bereit sein, ihre hegemonialen Ansprüche aufzugeben, und eine gleichmäßigere Verteilung der globalen Macht unter den Staaten akzeptieren? Werden sie bereit sein, auf der Grundlage von Kompromissen und Zugeständnissen Boden an ihre wirtschaftlichen und potenziell auch militärischen Rivalen abzutreten, sei es in Europa oder in Asien? Werden sich die Vereinigten Staaten großzügig und friedlich mit dem wachsenden Einfluss Chinas abfinden?[3]
Wer diese Fragen bejaht, schrieb das IKVI, gehe „eine riskante Wette gegen die Lehren der Geschichte ein“.
15. Heute haben die Antworten auf diese Fragen keinen spekulativen Charakter mehr. Ein Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China wird nicht als Möglichkeit, sondern als unausweichlich angesehen. Dieser Konsens innerhalb des außenpolitischen Establishments in Washington wird in einem Aufsatz zusammengefasst, der in der neuen Januar-Februar-Ausgabe 2024 von Foreign Affairs veröffentlicht wurde. Er trägt den bedrohlichen Titel „The Big One: Preparing for a Long War With China“. Der Autor ist Andrew J. Krepinevich Jr., ein Senior Fellow am Hudson Institute, einer führenden imperialistischen Denkfabrik.
16. Der Aufsatz folgt der Annahme, dass die Vereinigten Staaten und China gegeneinander Krieg führen werden. Diese Annahme wird als eine Selbstverständlichkeit behandelt, bei der man keine Zeit mit langen Debatten verschwenden sollte. Die eigentlichen Fragen beziehen sich darauf, wie und wo der Krieg beginnen wird – in der Straße von Taiwan, auf der koreanischen Halbinsel, entlang der chinesisch-indischen Grenze oder in Südasien – und ob der Krieg mit Atomwaffen geführt werden wird. Krepinevich stellt fest:
Ist ein Krieg erst einmal ausgebrochen, müssten sich sowohl China als auch die Vereinigten Staaten mit den Gefahren auseinandersetzen, die von ihren Atomwaffenarsenalen ausgehen. Wie in Friedenszeiten würden beide Seiten ein starkes Interesse daran haben, eine katastrophale Eskalation zu vermeiden. In der Hitze des Gefechts kann die Möglichkeit, dass es soweit kommt, jedoch nicht ausgeschlossen werden. Beide Seiten stünden vor der Herausforderung, den besten Punkt zu finden, an dem sie ihre Kraft ansetzen könnten, um einen Vorteil zu erlangen, ohne einen totalen Krieg auszulösen. Daher müssten die Führer beider Großmächte ein hohes Maß an Selbstbeherrschung walten lassen.
Damit der Krieg einen begrenzten Rahmen nicht verlässt, müssten sowohl Washington als auch Peking die roten Linien des jeweils anderen anerkennen – bestimmte Handlungen, die als eskalierend angesehen werden und eine Gegeneskalation auslösen könnten.[4]
17. Es ist völliger Wahnsinn, darauf zu hoffen, dass die Kriegsgegner inmitten eines existenziellen Konflikts, von dem ihr Schicksal abhängt, eine Eskalation abwenden und so ein nukleares Armageddon verhindern könnten. Der Stellvertreterkrieg der USA und der Nato gegen Russland hat bereits gezeigt, dass der US-Imperialismus sich von der Drohung mit nuklearer Vergeltung nicht abschrecken lässt und jede „rote Linie“ überschreiten wird, um seine Ziele zu erreichen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
18. Krepinevich räumt ein, dass der unvermeidliche Krieg zwischen den USA und China auch ohne den Einsatz von Atomwaffen katastrophale Folgen für die gesamte Menschheit haben wird. Er schreibt:
Selbst wenn beide Seiten eine nukleare Katastrophe vermeiden würden und selbst wenn die Länder der Vereinigten Staaten und ihrer wichtigsten Koalitionspartner teilweise unversehrt blieben, würde das Ausmaß der Zerstörung wahrscheinlich alles übertreffen, was die Bevölkerung in Amerika und den verbündeten Staaten bisher erlebt hat.[5]
19. Krepinevich zieht aber nicht die Schlussfolgerung, dass die militärische Katastrophe um jeden Preis verhindert werden muss. Vielmehr sei es entscheidend für den Erfolg, dass das Bündnis unter Führung der USA in der Lage ist, „die Unterstützung der Bevölkerung für die Kriegsanstrengungen und ihre Opferbereitschaft aufrechtzuerhalten“.[6]
20. Diesem imperialistischen Horrorszenario eines unvermeidlichen Kriegs muss sich die amerikanische und internationale Arbeiterklasse entgegenstellen. Die Arbeiter in den imperialistischen Zentren Nordamerikas, Europas, Asiens sowie Australiens und Neuseelands haben kein Interesse daran, die globalen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer machtbesessenen herrschenden Klasse zu verteidigen. In Russland, China und anderen großen kapitalistischen Regionalmächten wie Brasilien, Argentinien, Ägypten, die Golfstaaten, die Türkei, Nigeria, Südafrika, Indien und Indonesien, um nur die wichtigsten zu nennen, dürfen die Arbeiter keine Illusionen in die reaktionären Versuche haben, die Geopolitik entlang der Utopie einer multipolaren Welt zu reorganisieren.
21. Vom Standpunkt der russischen und internationalen Arbeiterklasse ist die Tatsache, dass der US-Imperialismus den Krieg gegen Russland in der Ukraine angezettelt hat, keine Rechtfertigung für den Einmarsch des Putin-Regimes in die Ukraine. Die Reaktion der russischen Regierung auf die Provokationen des amerikanischen und europäischen Imperialismus wurde nicht durch abstrakte Erwägungen der „nationalen Verteidigung“ bestimmt, sondern durch die Klasseninteressen der parasitären Oligarchen- und Kapitalistenklasse, die aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion hervorgegangen ist und sich durch die Privatisierung und den regelrechten Raub des staatlichen Eigentums bereichert hat.
22. In den Jahren vor der Auflösung der UdSSR entwickelte sich der politische Konflikt innerhalb des herrschenden bürokratischen Apparats entlang nationaler und ethnischer Linien. Diese reaktionäre Tendenz wurde durch Stalins Ablehnung des proletarischen Internationalismus und die Förderung des russischen Nationalismus unter dem Deckmantel eines chauvinistischen Sowjetpatriotismus vorbereitet und begünstigt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verwandelten sich die bereits bestehenden Konflikte zwischen nationalistischen bürokratischen Cliquen, von denen die russische und die ukrainische die mächtigsten waren, rasch in einen offenen Kampf um Rohstoffe, Märkte und territoriale Vorteile zwischen den neuen nationalen kapitalistischen Eliten. Im Oktober 1991, weniger als drei Monate vor der Auflösung der Sowjetunion, warnte das Internationale Komitee:
In den Republiken verkünden die Nationalisten, die Lösung aller Probleme liege in der Schaffung neuer „unabhängiger“ Staaten. Wir wollen die Frage stellen: unabhängig von wem? Wenn die Nationalisten ihre „Unabhängigkeit“ von Moskau erklären, so bleibt ihnen nichts weiter übrig, als alle entscheidenden Beschlüsse über die Zukunft ihrer neuen Staaten in die Hände Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Japans und der USA zu legen.[7]
23. Der laufende Krieg bestätigt die Warnung des Internationalen Komitees vor 30 Jahren. Der Kampf gegen den Nato-Krieg darf nicht zu einer Anpassung an das Putin-Regime führen, sondern muss mit einem unversöhnlichen Widerstand gegen dessen reaktionäre und nationalistische kapitalistische Agenda verbunden sein. Die Antikriegspolitik der russischen und ukrainischen Arbeiter muss sich auf die Einheit der gesamten Arbeiterklasse in der ehemaligen Sowjetunion gegen die neuen kapitalistischen Eliten stützen. Lenin und die Bolschewiki gründeten ihre internationalistische Politik während des Ersten Weltkriegs auf eine unnachgiebige Opposition gegen die Verteidigung des russischen kapitalistischen Staats. Diese Tradition muss heute von den Arbeitern Russlands und der Ukraine übernommen werden.
24. Die gleichen Grundprinzipien des sozialistischen Internationalismus bestimmen die Haltung des Internationalen Komitees gegenüber dem Konflikt zwischen dem US-Imperialismus und China. Die USA wollen Chinas wirtschaftliche Entwicklung hemmen, seinen Zugang zu wichtigen Ressourcen und Technologien beschränken und die Ausweitung seines globalen Einflusses stoppen. China versucht, dem unablässigen Druck des US-Imperialismus entgegenzuwirken, indem es eine Neuordnung der herrschenden geopolitischen und wirtschaftlichen Institutionen anstrebt, die bisher vom US-Dollar als Grundpfeiler des Welthandels und der Finanztransaktionen abhängen. Doch auch wenn China bemüht ist, dieser Politik einen fortschrittlichen und sogar altruistischen Anstrich zu geben (z. B. über die Neue Seidenstraße bzw. „Belt and Road Initiative“), fußt sie auf kapitalistischer Grundlage und zielt auf eine Neuordnung des gegenwärtigen globalen Kräfteverhältnisses.
25. Der Ausbruch eines Kriegs kann nicht verhindert werden, indem man der Hegemonie des amerikanischen Imperialismus eine neue multipolare Koalition kapitalistischer Staaten entgegensetzt. Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg kann nicht durch eine Umstrukturierung des Nationalstaatensystems, sondern nur durch dessen Zerstörung geführt werden. Wie Rosa Luxemburg am Vorabend des Ersten Weltkriegs betonte, muss die Arbeiterklasse „die Konsequenz ziehen, dass man den Imperialismus, Krieg, Länderraub, Völkerschacher, Rechtsbruch, Gewaltpolitik nur bekämpfen kann, indem man den Kapitalismus bekämpft, indem man dem weltpolitischen Völkermord die soziale Revolution entgegenstellt“.[8]
Thomas L. Friedman, „A Manifesto for the Fast World“, New York Times Magazine, 28. März 1999.
David North, 30 Jahre Krieg: Amerikas Griff nach der Weltherrschaft 1990–2020, Essen 2020, S. 371.
Ebd., S. 475.
Foreign Affairs, Januar-Februar 2024, S. 111–12.
Ebd., 117.
Ebd., 118.
„Nach dem Augustputsch: Die Sowjetunion am Scheideweg“, in: Vierte Internationale, Jg. 19 (1992), S. 115.
Rosa Luxemburg, „Kleinbürgerliche oder proletarische Weltpolitik?“ (19. August 1911), in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Berlin 2003, S. 26–31, hier S. 30.
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