In diesem Jahr begeht die Welt das 275ste Todesjahr von Johann Sebastian Bach (1685–1750). Den filmischen Auftakt gab im Dezember der Fernsehfilm „Bach – ein Weihnachtswunder“ (Regie: Florian Baxmeyer, Buch: Christian Schnalke), den über vier Millionen Zuschauer sahen.
Die weitgehend fiktive Handlung spielt in der Vorweihnachtszeit 1734. Bach, verkörpert durch den beliebten Schauspieler Devid Striesow, plant ein gigantisches Werk. Auf sechs Gottesdienste verteilt soll es die Menschen erschüttern und verändern. Noch immer regieren Eigennutz und Egoismus. Musik soll erreichen, wozu das gesprochene Wort der Predigt offenbar nicht in der Lage ist.
Das Vorhaben des „Weihnachtsoratoriums“ stößt auf den Widerstand der Leipziger Obrigkeit. Sie ist empört, dass Bach, städtisch angestellter Kantor der öffentlichen Thomasschule, „opernhaft“ komponiert, statt bescheiden die Gottesdienste musikalisch zu untermalen. Schon seine Matthäuspassion hätte die Menschen emotional aufgewühlt und verwirrt.
Der Besuch von Bachs ältesten Söhnen Friedemann (Dominic Marcus Singer) und Emanuel (Ludwig Simon), sie sind Musiker und Komponisten wie er, sorgt für weiteren Konfliktstoff. Emanuel fühlte sich schon immer vom Vater zurückgesetzt. Jetzt wirft dieser ihm vor, die Zeit mit Bierfiedelei in einem Studentenensemble zu verschwenden, statt endlich anzuwenden, was er bei ihm gelernt habe. Emanuel will wieder abreisen.
Die Mutter (Verena Altenberger) hat nicht mehr die Kraft, die Familie zusammenzuhalten. In den letzten Jahren starben sieben Kinder. Wieder schwanger, hat sie große Angst vor einer neuen Geburt. Die aufgeweckte achtjährige Tochter Elisabeth hilft ihr umsichtig, besorgt den Weihnachtsbaum für die Familie und hat ein Auge auf den offenbar autistischen Bruder Gottfried, den die gereizte Stimmung verunsichert.
Besonders empört Stadtrat und Kirchenvertreter, dass Bach seine künstlerischen Entscheidungen ohne sie trifft. Sie verbieten die Aufführung des Oratoriums, heben das Verbot aber im letzten Augenblick auf. Vor dem Dresdner Hofkomponisten Johann Adolph Hasse, der extra kommt, um die neue Leipziger Musik zu hören, will man denn doch nicht provinziell erscheinen.
Bachs Musik reißt alle mit. Mitreißend anzusehen ist auch der gemeinsame Kampf von Familie und Freunden um das Oratorium, der persönliche Konflikte in den Hintergrund treten lässt. Es geht um etwas Größeres. Emanuels bewegendes Statement gegenüber Stadtrat Stieglitz fordert die Respektierung einer Kunst, über die Künstler entscheiden.
Die aktuelle Bachforschung weiß nichts von Konflikten um das Weihnachtsoratorium, von seiner Unterdrückung oder gar Verbot. Den Filmemachern ging es offenbar weniger um historische Authentizität als darum, vor historischer Kulisse auf heutige Missstände aufmerksam zu machen. Was passt als Auftakt zum Bachjahr besser als eine Warnung vor der heutigen Tendenz, Kunst zu unterdrücken und zu instrumentalisieren.
Leider betreiben die Filmemacher ihre Kritik recht halbherzig, und der Film endet mit einer Beschwichtigung von Bachs Gegnern. So wird die Schärfe der Konflikte ins „Menschliche“ relativiert. Kunstfragen werden mit persönlichen Schwächen und etwas Feminismus vermischt.
Der energische Film-Bach, der die Wahrhaftigkeit seiner Musik verteidigt, ist nicht ganz frei von männlichem Egoismus. Sein Kontrahent, ein ahnungsloser, nicht völlig herzloser Bürokrat, könnte sicher, so will es das Drehbuch, umgestimmt werden, würde er Bachs neue Musik nur einmal hören wollen. Dazu bedarf es emanzipierter Frauenlist und des sensiblen Außenseiters Gottfried.
Als Bach ihn aus dem Affekt heraus versehentlich in Gefahr bringt, erhebt seine Filmehefrau den Vorwurf, Bachs künstlerischer Starrsinn gehe „am Menschen vorbei“. Man werde ihn später auch daran messen. Bach ist betroffen und gesteht seiner Frau, er sei, wie sie, stets in Gedanken bei den verstorbenen Kindern und hoffe, seine Musik erreiche sie.
Bereits der erste wissenschaftliche Bach-Biograf Philipp Spitta (1841–1894) wies darauf hin, dass Bachs Leipziger Konflikte als Thomaskantor, die der Film lose aufgreift, nicht allein aus Bachs Persönlichkeit zu erklären sind, es ähnliche Konflikte an anderen Orten Deutschlands gab und auch bereits früher.
Spitta, bemüht um eine historische Sicht, stellte fest, dass Bach das erwachte bürgerliche Selbstbewusstsein repräsentierte und daher höhere Ansprüche an die Kultur stellte, was mit der traditionellen, auch finanziell beschränkten Infrastruktur einer städtischen Gebrauchsmusik für Gottesdienst, Beerdigungen und Hochzeiten immer weniger zu vereinbaren war.
Der Forderung nach „wahrhaftiger“ Musik, die bewusst auch an Schmerzen rührt, wie sie Bach im Film verteidigt, nähert sich Spitta ebenfalls historisch. Dabei stellt er nicht die Verbindung zum schweren Lebensalltag her, zu dem die hohe Kindersterblichkeit des 18. Jahrhunderts gehörte, sondern zur gesellschaftlichen Atmosphäre in den Jahrzehnten nach Ende des 30-jährigen Krieges.
Der frühe Musikwissenschaftler, der besonders die Universalität von Bachs Musik würdigt, die sich nicht speziell an Katholiken oder Protestanten wendet, führte dies auch auf die schmerzhafte historische Erfahrung zurück, dass die Katastrophe des 30-jährigen Kriegs (1618–1648) als religiöser Glaubenskrieg begonnen hatte.
Das große Aufatmen nach dem langen Krieg löste einen Hunger nach Kultur aus, nach Bildung, nach Forschung. Die Vertreter der Frühaufklärung wie Gottfried Leibnitz (1646–1716), Philosoph und Mathematiker, oder der Universalgelehrte, Mathematiker, Jurist und Philosoph Christian Wolff (1679–1754) gingen davon aus, dass „Gottes Wille“ erforscht werden müsse, damit ein von Vernunft geleitetes menschliches Zusammenleben möglich wird.
Bach hat auf seinem Gebiet dazu Herausragendes beigetragen. Die Architektur seiner musikalischen Bauwerke erschloss neue harmonische Horizonte. In seinem Spätwerk (Kunst der Fuge, Ein musikalisches Opfer u.a.) setzt er der Arbeit mehrerer Musikergenerationen um die Erforschung der Bewegungsgesetze in der musikalischen Welt ein Denkmal. Drei Jahre vor seinem Tod trat Bach, wie vorher Telemann und Händel in die von Lorenz Christoph Mizler gegründete „Correspondierende Societät der Musikalischen Wissenschaften“ ein.
Dass der Film Bachs Musik, die die „Herzen öffnet“, dem gesprochenen Wort gegenüberstellt, das den Menschen nicht erreicht, hat etwas mit Ideen-skeptischen Stimmungen von heute zu tun, nichts mit Bach. Nicht nur dessen Bibliothek zeugt vom Gegenteil. Der konzentrierte Charakter seiner Musik, den jeder Zuhörer wahrnimmt, ist nicht denkbar ohne übergreifende Idee.
Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel (1714–1788) hat Recht, wenn er im Film erklärt, Musik, die die Gefühle der Menschen erreicht, rufe auch Leidenschaften hervor. Seine überlieferte Musik und die seiner Brüder – der jüngste Johann Christian (1735–1782) wird Mozart beeinflussen – demonstrieren aber gleichzeitig, wie wichtig ihnen die Klarheit musikalischer Gedanken war.
Trotz seiner sympathisch-kritischen Züge steht der Film letztlich in der Tradition sentimentaler Weihnachtsversöhnung. Am Ende ist die Obrigkeit von Bachs Musik gerührt und kann sogar erleichtert sein. Das „opernhaft“ komponierte Weihnachtsoratorium hat keine Revolution ausgelöst. Nur Gottfried bewegt sich tanzend durch die Kirche. Elisabeth steht zwischen den Thomaner-Sängern und hat sich für den Tag über das Gesetz hinweggesetzt, das keine Sängerinnen in der Kirche zulässt.
Hörbeispiele
Johann Sebastian Bach -Weihnachtsoratorium – Jauchzet, Frohlocket
https://www.youtube.com/watch?v=MVewzMm1uts
Johann Sebastian Bach - Ich ruf‘ zu dir, Herr Jesu Christ
https://www.youtube.com/watch?v=X9Dh43kVL1Q
Carl Philipp Emanuel Bach – Symphonie in E Moll
https://www.youtube.com/watch?v=1wgmi2QQpRc