Die Geschichte kehrt in diesen Tagen und Wochen in beängstigender Weise zurück. Sie aktiviert Erinnerungen, drängt sich in Albträume, verändert gewohnte Denkmuster und beeinflusst das kreative Schaffen von Menschen, so auch von Filmschaffenden.
Das diesjährige Programm von Berlinale Shorts, der Sektion des Festivals mit ersten Produktionen von jüngeren Regisseuren, vermittelt einen Eindruck davon. Viele der zwanzig Kurzfilme befassen sich in der einen oder anderen Weise mit Geschichte.
Es gibt unter anderem einen kurzen Film, der einen rassistischen Anschlag auf Passanten am Münchner Olympia-Einkaufszentrum 2016 mit dem Bau des Zentrums 1972 durch sogenannte Gastarbeiter in Verbindung bringt (Rückblickend Betrachtet); zwei Filme zum ehemaligen Jugoslawien (Koki, Ciao und Prekid/Waffenstillstand); einen biographischen Film zu einem an AIDS erkrankten Künstler Anfang der 90er Jahre in Toronto/Kanada (Lloyd Wong, Unfinished).
Daneben beschäftigten sich einige interessante Produktionen mit den Ausbeutungsbedingungen der globalisierten Wirtschaft (Their Eyes) und mit sozialen Problemen (Mother‘s Child) oder zunehmender staatlicher Repression (Dar band/Citizen Inmate).
Wie wird Geschichte sichtbar gemacht?
Allerdings wird in manchen Filmen auch der Schaden sichtbar, den postmoderne Auffassungen seit den 90er Jahren angerichtet haben. Danach beschränkt sich Geschichte auf persönliche Erzählungen, Meinungen, Erinnerungen. Das Handeln der Menschen wird von unmittelbaren Emotionen getrieben. Die objektiven geschichtlichen Veränderungen und ihre Auswirkung auf die persönlichen Beziehungen der Menschen sind kaum sichtbar.
Comment ça va? (How Are You?) von Caroline Poggi, Jonathan Vinel wurde als Kandidat für den European Film Award ausgewählt. Hier sind die postmodernen Einflüsse am auffälligsten. Mit Comic-Tierfiguren, die einen rauen Küstenstreifen bewohnen, kreiert der Film eine Parabel auf die gegenwärtige Weltlage, auf gewaltsame Konflikte, Klimazerstörung, Flüchtlingshetze usw. und verknüpft sie mit existenzialistischen, postmodernen Dialogen und Kommentaren. Im Kern bedient der Film eine antiwissenschaftliche Tendenz. Statt theoretische Klarheit sei Emotion und Aktion gefragt, um die Welt zu verändern.
Gestützt auf den Philosophen Heidegger, der erklärt hat, das menschliche Sein sei „ungefragt in die Welt geworfen worden“, wird im Film ein neues Tier, ein Pinguin, von den Wellen an Land gespült, von einem Elefanten, der von einer Bibliothek umgeben ist, für eine Radiosendung befragt, von der Löwen-Figur bekämpft und geköpft, danach wieder zum Freund erklärt. Sein Name heißt „weiß-ich-nicht“.
In einem Dialog mit dem Löwen sagt der Elefant: „Unwissenheit ist einfacher als Wissen“. Darauf der Löwe: „Die Theorie ist bequemer als die Umsetzung.“ Später kritisiert der Löwe den Elefanten: „Du bist einfach ein Bibliothekselefant. Richtig, nicht lesen, sondern handeln.“ Am Ende handelt der Elefant, indem er die anderen Tiere gemeinsam mit einer Art Kanone ins Meer hinauskatapultiert, und bleibt mit seinen Büchern am Strand zurück.
Der Gewinner des Goldenen Bären für Kurzfilm, Lloyd Wong, Unfinished von Lesley Loksi Chan, stützt sich auf Videoaufnahmen, die der an AIDS erkrankte chinesisch-kanadische Künstler Lloyd Wong im Toronto der 80er/90er Jahre selbst vor seinem Tod gedreht hat. Die kanadische Regisseurin betont, dass sie nicht beabsichtige, sein Werk zu vollenden. Ihr gehe es darum, den „Details des alltäglichen Lebens zuzuhören“, den großen Schwierigkeiten von queeren Gemeinschaften damals, und wie dies in der heutigen Zeit nachklinge. Filmemachen sei für sie eine „Form des Kümmerns“, ein Raum für einen „Dialog über kollektive Erinnerung und Selbstdarstellung“.
Das Problem mit dieser Herangehensweise zeigt sich in den Äußerungen von Lloyd Wong selbst. Statt die Schwierigkeiten von Homosexuellen oder asiatischen Künstlern in den 90er Jahren auf dem Hintergrund der allgemein reaktionären Wende nach der Auflösung der Sowjetunion zu verstehen, in der jede sozial fortschrittliche Idee unter Beschuss geriet, greift Lloyd Wong zu identitätspolitischen Konzepten. Man müsse die kulturelle Identität der jeweiligen Herkunft als Chinese oder Vietnamese herausarbeiten und auf dieser Grundlage den Rassismus bekämpfen, sagt er an einer Stelle.
Jugoslawien – eine Mahnung gegen Nationalismus
Zwei der Kurzfilme setzen sich mit Jugoslawien auseinander, das in den 90er Jahren von Kriegen verwüstet wurde und in Kleinstaaten zerfallen ist.
Koki, Ciao von Quenton Miller, der den neuen CUPRA Filmmaker Award erhalten hat, beschäftigt sich in ironisch-grotesker Weise mit einem sprechenden weißen Kakadu namens Koki, der einst dem jugoslawischen Regierungschef Tito gehörte. Bei diplomatischen Besuchen von Vertretern der blockfreien Staaten auf dem Landsitz Titos auf den Brijuni-Inseln wurde Koki als Teil des Unterhaltungsprogramms präsentiert. Die Koki-Show mit den spitzen Kakadu-Rufen „Tito, Tito“ wird heute noch als Touristenattraktion gezeigt.
Bilder und Videos aus den Archiven zeigen neben Tito Aufnahmen von Besuchern wie Nikita Chruschtschow, Abdel Nasser, Indira Gandhi, Ceauscescu, Suharto, u.a. Auch die Schauspielerin Sophia Loren und der Filmregisseur Orson Welles gehörten dazu.
Dazu der australisch-britische Regisseur Quenton Miller: Er wolle keine „menschenzentrierte Geschichte“ zeigen, sondern die „entfremdete Perspektive von Koki, der im Käfig eingesperrt ist“. Mit dem Wort „entfremdet“ beziehe er sich auf Bertold Brecht und Science Fiction. „Kokis Position befindet sich nicht nur zwischen den Vogelarten, sondern auch zwischen Staaten“, fährt er fort. Der Kakadu sei „in einen Zoo der Welttiere als Teil der internationalen Diplomatie der Blockfreien Bewegung“ geraten, „auf einer Insel mit wechselnden Grenzen, die zu verschiedenen Zeiten römisch war, Österreich-Ungarn, Frankreich, Italien und dann ein diplomatisches Zentrum für ein nicht mehr existierendes Land“.
Indirekt spielt die groteske Metapher von Koki auf die nationalen Konflikte des Balkans und heute an. Der Film bleibt aber an der Oberfläche und lässt offen, welche Stellung der Regisseur zur tragischen jugoslawischen Geschichte einnimmt. Die geschichtliche Wahrheit ist, dass die Auflösung Jugoslawiens den Startschuss geliefert hat für eine weltweite, immer bedrohlichere Kriegsentwicklung. Als Komödie ist diese Geschichte jedenfalls nicht geeignet.
Einen ernsthafteren Blick auf die Geschichte Jugoslawiens wirft der Dokumentarfilm Prekid vatre (Ceasefire/Waffenstillstand) von Jakob Krese.
„Schaut, wo sie uns hingebracht haben“, sagt Hazira im Sommer 2022, als das Filmteam sie besucht. Seit fast 30 Jahren, dem Ende des Jugoslawienkriegs von 1992 bis 1996, lebt sie in einem Barackenlager.
„Scheiß Mladić“, sagt sie in die Kamera, während sie büschelweise Unkraut auf einem Feld ausreißt. Und „Scheiß Karadjić, Scheiß Unkraut“. Mladić und Karadjić waren die bosnisch-serbischen Milizenführer, die das Massaker von Srebenića zu verantworten hatten.
Dies sind die nahezu einzigen politischen Bemerkungen zu jenem Krieg im Film. Auf die Frage nach dem Massaker vor 30 Jahren, das Hazira überlebt hat, bleibt sie wortkarg, betont nur, dass Frauen und Kleinkinder nicht angegriffen wurden und dass sie sich vor den Schüssen „von allen Seiten“ versteckt hätten.
Kreses Dokumentarfilm zeigt das harte Leben Haziras und ihrer Familie im Flüchtlingslager Ježevac bei Tuzla. In ihr Heimatdorf in den Bergen über Srebrenica konnte sie nie zurückkehren. Es liegt heute in der Republika Srpska, dem abgespaltenen serbischen Teil von Bosnien und Herzegowina.
Ihr Leben ist von engem Wohnraum in den Baracken, harter Arbeit auf Feldern, im Obstanbau geprägt. Sie sammelt Feuerholz, putzt die ärmliche Unterkunft nahezu zwanghaft jeden Tag, raucht ununterbrochen und versucht, mit schwarzem Humor und Durchhaltevermögen das Trauma des Krieges zu bewältigen. Sie und die anderen Bewohnerinnen des Lagers sind aber nicht nur traumatisierte Menschen, sondern auch stolze Landarbeiterinnen, die nicht auswandern und auch ein Angebot von EU-Beauftragten für Wohnungen in Neubaublocks in der Stadt nicht annehmen wollen.
Ausgangspunkt der Dokumentation war eine Recherche des Regisseurs Jakob Krese mit seiner Tante Meta Krese zur Balkan-Route, auf der Tausende syrische Flüchtlinge ab 2015 dem Krieg in ihrem Land zu entfliehen suchten. In einem Auffanglager in der Nähe Belgrads entdeckten sie Baracken, in denen Überlebende des Jugoslawien-Kriegs der 90er Jahre untergebracht waren. Weitere Recherchen förderten zutage, dass es zahlreiche solche Lager verstreut in Bosnien gibt.
Wie der Regisseur, Enkel einer Familie jugoslawischer Partisanen im Kampf gegen die Nazis, betont, soll sein Film eine Warnung vor dem heutigen Nationalismus sein, der sich in ganz Europa ausbreitet.
„Wir wollten nicht glauben, dass 20 Jahre nach dem Jugoslawienkrieg immer noch Menschen in Flüchtlingslagern leben“, so sein Director’s Statement zur Berlinale Premiere. „Und dass wir, die wir aus demselben ehemaligen Land kommen, nichts davon wussten.“ Es habe sich herausgestellt, dass es viele weitere solcher Fälle gab. „Mit diesem Film möchte ich auch meine Empörung darüber zum Ausdruck bringen, dass mitten in Europa, 26 Jahre nach dem Krieg, immer noch Menschen in einem Flüchtlingslager leben.“
Allein der Bosnienkrieg, ohne den folgenden Kosovo-Krieg, „zwang mehr als 2,2 Millionen Menschen zur Flucht, die größte Vertreibung von Menschen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs“, heißt es in einer Unterzeile zum Filmtitel.
Die Dokumentation von Jakob Krese diskutiert die politischen Fragen des Jugoslawienkriegs in den 90er Jahren nicht, auch nicht, wie es zum serbischen Massaker bei Sarajewo kam, das bis heute propagandistisch ausgeschlachtet wird, jedoch von ähnlichen Massakern durch kroatische Milizen begleitet war. Er sagt auch nichts zur verheerenden Rolle der deutschen Regierung, die die Lostrennung Kroatiens und Sloweniens 1991 forciert und damit den folgenden Bürgerkrieg ausgelöst hatte.
Aber der Regisseur will mit seinem Film mahnen: „Die Geschichte Jugoslawiens ist ein integraler Bestandteil der europäischen Geschichte, und der gewalttätige Nationalismus, der einst scheinbar aus dem Nichts auftauchte, lebt heute auch in anderen Teilen Europas wieder auf.“
Zwei kleine Momente im Film sind bedeutsam. In Fernsehnachrichten, die Hazira und ihre Nachbarn zusammen verfolgen, heißt es: „Die Kämpfe in Donetsk intensivieren sich, 15.000 Menschen in Lysychansk wurden zum Verlassen der Stadt aufgefordert“, und in einer späteren Sendung: „Im Flüchtlingslager Jalazone bei Ramallah wurden mehrere Palästinenser festgenommen, darunter Kinder. Seit Oktober wurden über 10.000 Palästinenser bei israelischen Angriffen getötet ...“
Der Titel „Prekid vatre“ verweist darauf, das es zwischen den Jugoslawienkriegen und den jetzigen Kriegen in der Ukraine und in Gaza nur vorübergehend Waffenstillstand gab.
Das Ende des sozialen Staats
Yoriko Mizushiris Kurzanimation Ordinary Life, der den Silbernen Bären erhielt, ist faszinierend und gelungen. Mit ausgewaschenen Farben und Motiven, die nur mit einfachen Linien angedeutet werden (eine gesichtslose Frau, ein Hund ohne Augen), richtet sie den Fokus auf alltägliche Objekte und Empfindungen. Die Lamellen eines Pilzes spiegeln sich in den Jalousien, über die die Frau mit den Fingern streicht. Ein Windstoß bläht eine Plastiktüte auf, die nahtlos in das Haar der Frau übergeht. Das Spiel mit Formen ist kreativ genug, um den Zuschauer trotz des Fehlens einer traditionellen „Handlung“ in Bann zu ziehen.
Er vermittelt das Gefühl einer Welt, die zusehends aus den Fugen gerät, deren gewohnte Abläufe des Alltagslebens auf absurde Weise durcheinandergeraten.
In einem weiteren Animationsfilm, Mother’s Child von Naomi Noir, Niederlande 2024, kümmert sich eine alleinerziehende Mutter namens Mary um ihren 25-jährigen Sohn, der mit Zerebralparese lebt. Dieser ist nicht in der Lage, selbstständig die Toilette zu benutzen oder seine Bedürfnisse klar zu kommunizieren.
Seine Mutter ist liebevoll und tut ihr Bestes, ist jedoch ständig erschöpft, und diese Erschöpfung wird auch durch eine surrealistische Darstellung von ihr und ihrer Umgebung vermittelt. Die Farben und Linien gehen ineinander über, und die Realität verwandelt sich in eine Traumwelt, wenn sie einschläft. Diese Effekte wurden durch den Einsatz von 2D- und 3D-Animation in Kombination mit analoger Aquarellmalerei erzielt. Mary versucht, finanzielle Unterstützung von der Regierung als Vollzeitbetreuerin zu erhalten, wird jedoch ständig in der Warteschleife der Regierung gehalten und muss den Zustand ihres Sohnes immer wieder erklären.
Man spürt wirklich, wie albtraumhaft und absurd ihre Situation ist. Ein blinkendes Werbeplakat mit den Worten „Willkommen im fabelhaften Warteschleifenland der Regierung“ und ein Sarg mit der Aufschrift „RIP der Wohlfahrtsstaat“ tauchen in ihren Träumen auf. Als sie in der Kneipe gefragt wird, wie es ihr geht, antwortet Mary: „Mir geht’s gut, Fred, ich kann mich nicht beschweren, und dir?“. Der Film endet mit einer Widmung an „alle Pflegekräfte, die Tag und Nacht unermüdlich arbeiten“.
Der iranische Film Dar Band – Citizen Inmate wurde im dokumentarischen Stil gedreht. CCTV-Aufnahmen von öffentlichen Plätzen und Menschen, die ihrem Alltag nachgehen, wechseln sich mit Szenen aus dem Inneren eines Gebäudes ab, das wie eine Polizeistation oder ein „Überwachungs-Hauptquartier“ wirkt.
Dort sichten die Mitarbeiter die CCTV-Aufnahmen und behalten die Bürger mithilfe von Fußfesseln im Auge, die als hunderte kleine, sich bewegende Gesichts-Icons auf einer Karte der Stadt erscheinen. Die Mitarbeiter wirken gelangweilt und überarbeitet. Eine Frau in der Menge bemerkt eine der Kameras und richtet ihren Blick darauf, starrt zurück auf denjenigen, der dahintersteht. Die Überwachungsbediensteten rufen die Bürger an, sobald sie über ihre Fußfesseln verdächtige Aktivitäten bemerken.
Ein Bürger ruft die Zentrale zurück, nachdem ihm befohlen wurde, die Straße auf- und abzugehen, weil seine Inaktivität ein Warnvibrationssignal ausgelöst hatte: „Kannst du die Vibration stoppen? Wenn du mich so folterst, wäre ich lieber wieder im Gefängnis.“ Bald sind die Bediener mit Anrufen überschwemmt. Ihre Aufgabe scheint unüberschaubar zu sein. Ein Mann in einer Kapuzenjacke wirft einen Stein auf eine CCTV-Kamera. Die kleinen Icons auf den Computermonitoren der Bediener verwandeln sich in eine Masse wütender Gesichter.
Obwohl der Film in Teheran gedreht wurde, hätte er in fast jeder anderen Stadt der Welt spielen können. Seine Hauptaussage, dass ein Überwachungsapparat Instabilität verrät und eine solche Situation nicht andauern kann, ist ebenfalls universell.
Clickworker – eine globale Sklaverei
Einer der interessantesten Kurzfilme ist die Dokumentation Their Eyes von Nicolas Gourault. Die Protagonisten sind Clickworker aus Venezuela, Kenia und den Philippinen, die erzählen, während uns die Aufgaben gezeigt werden, die ihre Arbeit am Computerbildschirm ausmachen. Die Arbeiter annotieren visuelle Daten, die zur Schulung der KI in selbstfahrenden Autos verwendet werden. „Segmentierung ist wie Malen“, kommentiert ein Arbeiter, während er die Maus um eine menschliche Figur zieht und sie dann beschriftet – „Mensch – Autoritätsfigur – Bauarbeiter“.
Die Fotografien stammen in der Regel aus Städten in den Vereinigten Staaten oder in Europa, die die Arbeiter anhand von Hinweisen zu erraten versuchen (die Auftragsgeber sind streng geheim). Diese mühsamen, akribischen Aufgaben, die gemäß umfangreicher Anweisungslisten ausgeführt werden müssen, sind nur wenige Cent bis ein paar Dollar wert. „Wir sind Sklaven. Die Unternehmen erhalten Qualitätsarbeit, aber wir werden miserabel bezahlt“, bemerkt ein Arbeiter.
Clickworker werden oft als „selbstständige Auftragnehmer“ bezeichnet, sind jedoch völlig abhängig von Plattformen wie Amazon Mechanical Turk und Appen, die ihre Arbeit wiederum an große Tech-Unternehmen wie OpenAI oder Google sowie führende Automobilmarken liefern. Clickworker haben keine Arbeitsplatzsicherheit und keine Sozialleistungen.
Obwohl ihnen die Identität der Kunden unbekannt ist, werden die Arbeiter ständig überwacht und mit Hilfe von Algorithmen bestraft, die automatisch bestimmen, welche Aufgaben ihnen zur Verfügung stehen und zu welchen Vergütungssätzen. Ihre Bezahlung kann verzögert, eingefroren oder sogar vollständig einbehalten werden, wenn sie von der Plattform ausgeschlossen werden.
Da alles online erfolgt, können Plattformen in Echtzeit problemlos „herunterskalieren“ und „heraufskalieren“ und von Land zu Land wechseln, um die am besten qualifizierten Arbeiter zu den niedrigsten Löhnen zu finden.
„Sie haben alle unterschiedliche Gehirne (die Autos) – wir müssen ihnen beibringen, wie sie sich in der Welt zurechtfinden“, erklärt ein Arbeiter. „Ohne unsere Arbeit könnten sie nicht fahren, wir sind ihre Augen, aber es ist, als würden wir nicht existieren.“ Die Kameraperspektive wechselt vom Computerbildschirm zu den Augen des kenianischen Arbeiters. Wir sehen den veralteten Laptop, den er benutzt, und seine bescheidenen Verhältnisse – eine kleine Couch, auf der er arbeitet, seine kahle Küche, Wasserkrüge, einen Eimer.
Eine Arbeiterin von den Philippinen lacht, während sie die Straßen in ihrer Stadt zeigt: „Es würde lange dauern, zu annotieren, da so viele Menschen auf den Straßen unterwegs sind…“. Eine andere überlegt, ob die Technologie der selbstfahrenden Autos in Nairobi ankommen und ob sie in diesem Sektor weiterhin arbeiten oder ob ihre Arbeit durch „Roboter“ ersetzt wird.
Die Dokumentation zeigt mehrere Aspekte: Wie alle technologischen Innovationen führt künstliche Intelligenz unter dem Kapitalismus zu einer Intensivierung der Ausbeutung. Während es in den Medien oft als ein Thema des „Globalen Nordens“ versus den „Globalen Süden“ dargestellt wird (was auch der Regisseur betont), ist die Realität komplexer.
Das Oxford Internet Institute oder die Internet Labor Organization beispielsweise berichten, dass die Vereinigten Staaten konstant als der erst- oder zweitgrößte Anbieter von Online-Arbeit eingestuft werden. Große Tech-Unternehmen verkaufen KI als eine Technologie, die den Menschen repetitive Aufgaben abnimmt, während sie gleichzeitig eine massive Belegschaft beschäftigen, die genau das tut. Arbeitern weltweit wird suggeriert, dass sie wenig wert seien, weil „die KI sie bald ersetzen könnte“, dabei bleiben sie für die Funktion dieser Systeme essenziell – sei es als Clickworker in den USA, auf den Philippinen, in Kenia oder als Vertragsarbeiter bei Hitachi Ltd., das Arbeiten für Google AI liefert.
Es wird auch gezeigt, wie sich die Clickworker, die sich im wirklichen Leben niemals treffen, online organisieren und zusammenarbeiten. In WhatsApp-Gruppen diskutieren sie, welche Aufgaben am besten sind, helfen einander und entwickeln einen Plan, um durch die Nutzung von VPNs, die ihre IP-Adresse auf ein Land mit höheren Löhnen setzen, bessere Bezahlung zu erhalten.
Ein weiterer starker Punkt der Dokumentation ist, dass sie nicht einfach die Technologie selbst dämonisiert. Tatsächlich erscheinen viele der Clickworker sowohl stolz auf ihre Kenntnisse als auch neugierig auf das Potenzial der KI. Der Film stellt eine übergeordnete Frage: Unter welchen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen könnten Innovationen wie autonome Fahrzeuge tatsächlich der Mehrheit dienen, anstatt eine kleine Elite zu bereichern.