75. Berlinale – Teil 5

Huo Mengs „Living the Land“: Ein bewegendes Porträt des ländlichen China in den 1990er Jahren

Bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen Berlin erhielt Huo Meng den Silbernen Bären für seinen Spielfilm Living the Land (Sheng xi zhi di). Der Film spielt 1991 in einem verarmten Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan. Er ist eine bewegende und lebendige Darstellung des ländlichen Lebens und der sozialen Auswirkungen der raschen Urbanisierung des Landes. Der Film soll noch in diesem Jahr in China veröffentlicht werden.

Living the Land

Living the Land konzentriert sich auf den zehnjährigen Chuang Li (Wang Shang) und seine Familie. Der Film beginnt mit der Exhumierung von einem von Chuangs Großvätern, der hingerichtet wurde, als er im Zweiten Weltkrieg gegen die japanische Invasion kämpfte. Er wird exhumiert, um mit seiner kürzlich verstorbenen Witwe, Chuangs Großmutter, gemeinsam beigesetzt zu werden.

Chuangs Eltern, die als Wanderarbeiter in Shenzhen im Süden Chinas arbeiten, damals noch eine relativ kleine Stadt, kommen zur Beerdigung nach Hause, müssen aber bald darauf wieder abreisen. Wir sehen Chuangs Mutter nur wenige Minuten nach Beginn des Films zum letzten Mal, als sie das Dorf verlässt und mit ihrem Mann auf einem Fahrrad sitzt, um weinend nach Shenzhen zurückzukehren.

Karte von China mit der Provinz Henan und Shenzhen

Chuang wird größtenteils von seinen Großeltern und seiner Tante Xiuying (Zhang Chuwen) aufgezogen. Er steht auch seiner Urgroßmutter und seinen beiden Cousins nahe. Einer dieser Cousins, der 19-jährige Jihua, ist geistig behindert. Er wird oft von anderen Kindern verspottet und von seinem Vater geschlagen, aber Chuang, seine Urgroßmutter (Zhang Yanrong) und Jihuas Mutter lieben ihn sehr und tun ihr Bestes, um ihn zu beschützen.

Im Dorf gibt es keinen Strom, und nur eine Familie besitzt einen Ochsen, mit dem das Land gepflügt werden kann. Der Lebensrhythmus wird von der Ernte, von traditionellen Feiertagen wie dem Herbstfest, von Hochzeiten, Geburten und Beerdigungen bestimmt. Die Schule schließt, wenn die Kinder ihre Eltern bei der Feldarbeit für die Ernte unterstützen müssen. Die Bauern bezahlen ihre Steuern und die Schulgebühren für ihre Kinder mit Getreide. In einer denkwürdigen Szene sehen wir, wie der Schulleiter das Getreide ablehnt, das Chuangs Cousin mitgebracht hat – seine Familie ist die ärmste im Dorf und ihre Ernte hat nicht genug Getreide erbracht, um sowohl die Steuern als auch die Schulgebühren bezahlen zu können.

Beiläufig erfahren wir, dass die Dorfbewohner ihr Blut verkaufen müssen, um ihre Schulden und Rechnungen bezahlen zu können – ein weit verbreitetes Phänomen im ländlichen China der 1990er Jahre und eine der Hauptursachen für die AIDS-Epidemie im Land.

Chuangs Urgroßeltern und Großeltern können nicht lesen, ermutigen ihn aber zum Lernen. Sie sind sehr einfühlsame und fleißige Menschen, die sich der doppelten Unterdrückung, unter der sie aufgrund ihres Status als Bauern und ihrer mangelnden Bildung leiden, schmerzlich bewusst sind.

In einer der bewegendsten Szenen spricht Chuang mit seiner Urgroßmutter über ihren Tod.

Er fragt: „Hast du Angst vor der Einäscherung?“
„Natürlich, wer hätte die nicht?“, antwortet sie.
„Du brauchst keine Angst zu haben, es sterben nur Zellen, die dann jedes Jahr erneuert werden.“
„Was passiert mit den toten Zellen?“, fragt sie.
„Sie werden verteilt, einige werden begraben, andere werden vom Wind an weit entfernte Orte getragen.“

Sie antwortet: „Das ist gut, ich war in meinem ganzen Leben noch nirgendwo.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Es ist gut, dass du lesen kannst.“

Obwohl der Zeitraum, der in Living the Land abgedeckt wird, relativ kurz ist – etwa sechs Monate –, sehen wir, wie eine Kombination aus monumentalen gesellschaftlichen Veränderungen und dem natürlichen Kreislauf von Leben und Tod im Dorf Chuangs Kindheit ein frühes und schnelles Ende bereitet.

Am Ende des Films kann eine Familie einen kleinen Traktor nutzen, der die Arbeit mehrerer Familien erledigen kann. In einer Szene denken die Bauern darüber nach, dass eine einzige amerikanische Großmaschine die Arbeit ihres gesamten Dorfes erledigen könnte. Mit dem allmählichen Einzug moderner Maschinen in das Dorf ziehen immer mehr Bauern in den Süden, vorwiegend nach Shenzhen. Ausländische Unternehmen wie Apple investierten zu dieser Zeit stark in die „Sonderwirtschaftszone“ in Shenzhen. Diese war von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) als wichtige Komponente eingerichtet worden, um wieder kapitalistische Beziehungen herzustellen. Für Arbeiter wie Chuangs Eltern bedeutete dies extrem niedrige Löhne und brutale Ausbeutungsbedingungen.

Chuangs engste Familie zerbricht bald. Eine seiner Tanten ist mit dem dritten Kind schwanger. Die Familie versucht, den Verstoß gegen die damals noch geltende Ein-Kind-Politik zu verbergen, indem sie Chuangs andere Tante zur staatlichen Schwangerschaftsuntersuchung schickt. Doch sie fliegen auf, als Chuangs Onkel seine Frau zur Entbindung ins Krankenhaus schickt, weil er befürchtet, dass sie sonst sterben könnte. Der Parteisekretär des Dorfes teilt ihnen mit, dass sie eine Strafe von 3.000 Yuan (heute etwa 413 US-Dollar) zahlen müssen, eine für die Familie exorbitante Summe, und schlägt vor, dass Chuangs andere Tante, Xiuying, den Sohn einer wohlhabenderen Familie in einem Nachbardorf heiratet, der sich für sie interessiert hat.

Xiuying stimmt zu, obwohl sie in einen anderen Mann verliebt ist und ihren Bräutigam verabscheut. Es ist niemand zu sehen, der sie unter Druck setzt; es ist die Armut der Familie, die ihr scheinbar keine andere Wahl lässt. Kurz nach der Hochzeit stirbt Chuang's geistig behinderter Cousin Jihua auf tragische Weise; er wird von einem Sprengsatz in die Luft gesprengt, der in einem Weizenfeld platziert wurde, um Öl zu finden.

Chuangs Urgroßmutter, die Jihua sehr liebte, stirbt kurz darauf. Der Film endet damit, dass Chuang, seine Großeltern, sein Onkel und seine Tante ihre Asche zurück ins Dorf tragen, um sie zu begraben. Ihr primitiver Traktor bleibt im Schlamm stecken, und sie müssen sich sehr anstrengen, um ihn in Bewegung zu halten. In einer langen Einstellung entfernt sich die Kamera von der Familie und zoomt weg, um die schöne, aber trostlose und eisige Landschaft zu zeigen, in der sie ihr Land pflügen und ihr Leben leben.

In einem Interview während der Berlinale erklärte Huo Meng, dass die Motivation für die Entstehung des Films zum Teil autobiografisch war – er wurde 1984 geboren und wuchs in einem Dorf auf, das dem von Chuang ähnelt. Chuangs Dorf, so Huo Meng, stehe für Tausende ähnlicher Dörfer. Die Erfahrungen Chuangs, der in extremer Armut aufwächst, mit Wanderarbeitereltern, hin- und hergerissen zwischen uralten Traditionen des Landlebens und einem rasanten Urbanisierungsprozess, sind die einer ganzen Generation von Chinesen.

Huo Meng auf der Berlinale (berlanle.de)

Huo Mengs Realismus ist zutiefst einfühlsam, aber niemals sentimental. Er zeigt die teilweise tiefe Grausamkeit und Brutalität zwischenmenschlicher Beziehungen auf dem Land, aber er demütigt oder verurteilt seine Protagonisten nie. Vielmehr konzentriert er sich darauf, zu zeigen, wie die Bedingungen verzweifelter Armut zu oft schmerzhaften und verzweifelten Entscheidungen und Verhaltensweisen führen. Diese harte Realität wird durch äußerst lustige Szenen und Beziehungen von großer Wärme unterbrochen.

Die Entscheidungen der Generation von Chuangs Eltern, Großeltern und Urgroßeltern wurden in erster Linie von dem Bestreben bestimmt, ihren Kindern ein besseres Leben und eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Trotz der schwierigen Bedingungen sorgten sie dafür, dass die Generation von Chuang und Huo Meng einen viel höheren Lebensstandard und eine bessere Bildung genoss. Vor allem aber ist der Film eine Hommage an die immensen Opfer und die harte Arbeit dieser Generationen.

Der Film vermittelt die Schönheit der Landschaft und das extrem harte Leben in chinesischen Dörfern kurz nach der Wiederherstellung des Kapitalismus. Menschen wie Chuangs Eltern, die nach Shenzhen, Shanghai oder in andere schnell wachsende Industriezentren zogen, waren Teil von fast 14 Prozent der chinesischen Bevölkerung, die zwischen 1980 und 1991 vom Dorf in die Stadt zogen. Zu dieser Zeit befand sich der Urbanisierungsboom noch in einem relativ frühen Stadium.

Heute leben 67 Prozent der Bevölkerung in Städten (im Vergleich zu weniger als 19 Prozent im Jahr 1980), die praktisch alle über eine fortschrittliche, moderne Infrastruktur verfügen. Shenzhen ist das extremste Beispiel für diesen Prozess: Die Bevölkerung explodierte von nur 30.000 im Jahr 1980 auf heute 17,5 Millionen. Selbst das ländliche Gebiet, so Huo Meng im Interview, wurde so stark modernisiert, dass es für die Filmemacher schwierig war, einen Drehort zu finden.

Trotz dieser enormen Veränderungen und einer deutlichen Verbesserung des Lebensstandards zeigt der Film eine Realität, die nicht nur in der Vergangenheit liegt. Für Millionen chinesischer Arbeiter und Bauern und ihre Kinder ist sie nach wie vor Teil ihres Alltags. Im Jahr 2024 gab es schätzungsweise 300 Millionen Wanderarbeiter, die nach wie vor die am stärksten unterdrückte Schicht der riesigen, aber immer noch wachsenden Arbeiterklasse Chinas bilden.

Living the Land ist ein bedeutendes künstlerisches Werk. Kinobesuchern in China zeigt der Film eine Realität, die vielen von ihnen nur allzu vertraut ist. In anderen Ländern kann der Film zu einem besseren Verständnis einer äußerst komplexen Gesellschaft und einer riesigen Arbeiterklasse beitragen, die jetzt von den imperialistischen Mächten in ihrer wahnsinnigen Kriegstreiberei verleumdet wird.