Am letzten Freitag musste Andrij Jermak, der Stabschef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, nur wenige Stunden nach der Durchsuchung seines Apartments durch die nationale Antikorruptionsbehörde (NABU) zurücktreten. Die Durchsuchung war Teil von Ermittlungen im Rahmen der sogenannten „Operation Midas“, bei der es um Veruntreuung in Höhe von 100 Millionen Dollar geht. Der Skandal hat die krisengeschüttelte Selenskyj-Regierung schwer erschüttert.
Jermak, neben Selenskyj die mächtigste politische Persönlichkeit der Ukraine, fungierte sowohl als Selenskyjs oberster Berater als auch als Chefunterhändler bei den laufenden US-unterstützten Verhandlungen zur Beendigung des Nato-Stellvertreterkriegs gegen Russland.
Die NABU und die Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung (SAPO) gaben in einer gemeinsamen Erklärung bekannt, die Razzien seien offiziell „genehmigt“ und stünden im Zusammenhang mit einer nicht näher spezifizierten Untersuchung, die jedoch mit Sicherheit mit dem 100-Millionen-Dollar-Veruntreuungsskandal zusammenhänge, der Anfang November erstmals von der NABU aufgedeckt wurde.
Laut den Vorwürfen waren mehrere führende Mitglieder der ukrainischen Regierung und ein enger Geschäftspartner Selenskyjs und Jermaks in einen Veruntreuungsskandal um den staatlichen Atomenergiekonzern Energoatom verwickelt.
Energieministerin Switlana Hryntschuk und Justizminister Herman Haluschenko mussten bereits zurücktreten, nachdem bekannt wurde, dass sie mutmaßlich Bestechungsgelder in Höhe von zehn bis fünfzehn Prozent der Auftragssumme von Firmen erhalten haben, die Befestigungsanlagen für die ukrainische Energieinfrastruktur bauen.
Weitere mutmaßliche Komplizen in dem Korruptionssystem waren der ehemalige stellvertretende Premierminister Oleksij Tschernyschow und Timur Minditsch – ein enger Partner von Selenskyj und Jermak und Miteigentümer von Selenskyjs ehemaligem Fernsehstudio Kwartal95. Minditsch soll vor der Razzia gewarnt worden sein und war bereits nach Israel geflohen, als die Ermittler sein Apartment durchsuchten.
In den folgenden Wochen zirkulierten Gerüchte, dass Jermak und sogar Selenskyj die Nächsten sein könnten, da ihre allgemein bekannte enge Beziehung zu Minditsch ihre Unschuldsbeteuerungen, nicht an dem Bestechungssystem beteiligt gewesen zu sein, sowohl logisch als auch politisch unhaltbar machten. Angeblich ist Jermaks Stimme auch auf aufgezeichneten Unterhaltungen mit Minditsch zu hören, die die NABU veröffentlicht hat.
Minditsch und sein enger Geschäftspartner, der ukrainische Oligarch Igor Kolomoiski, spielten eine entscheidende Rolle beim Wahlsieg des ehemaligen Komikers Selenskyj bei den Präsidentschaftswahlen von 2019. Selenskyj reiste im Wahlkampf sogar in Minditschs privatem Panzerwagen. Zudem besaß Selenskyj ein Luxusapartment im gleichen Gebäude wie Minditsch, wo die Ermittler der NABU ein mit Gold verkleidetes Badezimmer fanden, das Minditsch für sich eingerichtet hatte. Es ist hochgradig unwahrscheinlich, dass Jermak und Selenskyj nichts von Minditschs massiven Unterschlagungen wussten, in die Minister ihrer eigenen Regierung verwickelt waren.
Selenskyj, dem offensichtlich bewusst ist, dass sein eigenes Schicksal ungewiss ist, verkündete am Freitag in einem Video Jermaks Rücktritt.
Jermaks Rücktritt ist der vorläufige Höhepunkt eines erbitterten Kampfs innerhalb des ukrainischen Staats und der herrschenden Klasse. Oberflächlich betrachtet, geht es dabei um einen Kampf zwischen dem Selenskyj-Regime und der NABU, die in der Vergangenheit sowohl von der EU als auch von den USA massiv unterstützt wurde, um direkt in die turbulente und von Clanstrukturen geprägte Politik der Oligarchie einzugreifen.
Anfang Juli hatte Selenskyj versucht, die Befugnisse der NABU und der SAPO zu beschränken, vermutlich weil er sich der allgegenwärtigen massiven Unterschlagungen und Räubereien innerhalb seiner Regierung bewusst war. Das führte zu den größten landesweiten Protesten seit Beginn des Nato-Stellvertreterkriegs im Februar 2022.
Laut Selenskyj war es notwendig, der der Behörde ihre Unabhängigkeit zu nehmen, um den „russischen Einfluss“ zu bekämpfen. Gleichzeitig führte der ukrainische Sicherheitsdienst SBU, der eng mit Selenskyj verbündet ist, Razzien bei der NABU durch, angeblich um russische Spione zu verhaften.
Aufgrund der Empörung im Inland sowie der Intervention der EU und der USA war Selenskyj letztendlich gezwungen, einen Rückzieher zu machen, und seinen Versuch, die Kontrolle über das NABU zu übernehmen, einzustellen.
Die NABU wurde nach dem von den USA und der EU unterstützten Putsch gegen den gewählten Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Februar 2014 gegründet. Er löste einen acht Jahre andauernden Bürgerkrieg in der Ostukraine aus, der schließlich im Februar 2022 zur russischen Invasion führte. Seit der Gründung der NABU durch die rechte nationalistische Regierung von Petro Poroschenko im Jahr 2015 wird sie fast vollständig von den USA konzipiert und geleitet. Ihr Personal wird direkt vom FBI und der Europäischen Union ausgebildet.
Im Jahr 2020 beschwerte sich der ehemalige ukrainische Generalstaatsanwalt, Wiktor Schokin, die NABU sei auf Anordnung des damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden geschaffen worden, um die ukrainische Ermittlungsbehörde DBR zu untergraben und dort „Gefolgsleute, die auf die USA hören“, einzusetzen.
In den Tagen vor Jermaks Rücktritt hatte die Ukrainskaja Prawda berichtet, er habe versucht, die laufenden Korruptionsermittlungen der NABU zu unterlaufen, indem er die Selenskyj-treuen Sicherheitskräfte im SBU anwies, Anklagen gegen den Chef der Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung (SAPO), Oleksandr Klymenko, vorzubereiten.
Das populäre ukrainische Nachrichtenportal berichtete außerdem, Selenskyj habe bei einem Treffen nach Beginn des Skandals erfolglos versucht, einen Waffenstillstand mit NABU- und SAPO-Vertretern zu schließen. Vor Jermaks Rücktritt hatten NABU-Beamte öffentlich angedeutet, dass gegen ihn ermittelt wird und dass er offen versuche, diese Ermittlungen zu behindern.
Es ist kein Geheimnis, dass Vertreter Washingtons und der EU Jermak und seinem immensen Einfluss auf die ukrainische Politik seit langem sehr skeptisch, wenn nicht sogar feindselig gegenüberstehen. Im Juli brachte die Financial Times ein umfassendes Essay über Jermak, den sie als „graue Eminenz“ der ukrainischen Politik bezeichnete, und zitierte zahlreiche Regierungsvertreter, die sich über seinen Einfluss auf Selenskyj beschwerten.
In den letzten Monaten betrachtete vor allem die Trump-Regierung Jermak als Hindernis für eine Verhandlungslösung mit Russland. Sie würde den USA durch ein Ende des Stellvertreterkriegs, der bereits hunderttausende Todesopfer gefordert hat, größtmögliche Profite ermöglichen und gleichzeitig ein langfristiges Abkommen mit dem oligarchischen Putin-Regime ermöglichen. Die Rivalen der USA in der EU lehnen dies vehement ab. Erst vor wenigen Tagen weigerte sich Jermak als Chefunterhändler in einem Interview mit dem Atlantic kategorisch, auch nur in Betracht zu ziehen, ukrainisches Territorium abzutreten – eine der wichtigsten Bedingungen von Trumps Friedensplan –, um den Krieg zu beenden.
Jermaks Rücktritt hat Selenskyjs Position dramatisch geschwächt.
In der Bevölkerung herrscht immense Wut und Abscheu über den Korruptionsskandal, der den schamlosen Diebstahl von Geldern durch die gleichen Oligarchen und Regierungsvertretern offengelegt hat, die Hunderttausende von Ukrainern in den Tod geschickt und ihnen falsche Versprechungen über „Demokratie“ und „Freiheit“ gemacht haben. Selenskyjs Rückhalt ist um 40 Prozentpunkte auf unter 20 Prozent und damit auf den niedrigsten Stand seit seinem Wahlsieg 2019 gesunken. Zum ersten Mal seit Beginn des Kriegs misstrauen ihm mehr Ukrainer als ihm vertrauen.
Gleichzeitig benutzen Teile der herrschenden Klasse und der imperialistischen Mächte die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Selenskyj in einem erbitterten Kampf um die Außenpolitik des Landes und die Aufteilung der Kriegsbeute. Kurz nach der Ankündigung von Jermaks Rücktritt stellte sich Selenskyjs Erzrivale und ehemaliger Oberbefehlshaber, Waleri Saluschnyj, faktisch hinter Trumps Versuche, einen Deal auszuhandeln. Saluschnyj, mittlerweile Botschafter in Großbritannien, erklärte: „Die überwiegende Mehrheit aller Kriege enden entweder mit einer beidseitigen Niederlage oder damit, dass beide Seiten überzeugt sind, gewonnen zu haben, oder mit einer anderen Variante [dieser Szenarien].“ Saluschnyj, der umfangreiche Beziehungen zur extremen Rechten des Landes unterhält, wurde von Selenskyj 2024 entlassen, genießt aber noch immer beträchtlichen Rückhalt in Teilen des ukrainischen Staats und bei den imperialistischen Mächten und wird oft als möglicher Nachfolger Selenskyjs gehandelt.
