Nach viereinhalb Monaten permanenter Proteste erlebte die serbische Hauptstadt Belgrad am 15. März die größte Demonstration seit dem Zerfall Jugoslawiens vor mehr als 30 Jahren. Mindestens 300.000 Menschen – einige Schätzungen liegen noch wesentlich höher – demonstrierten gegen Machtmissbrauch und Korruption.
Studenten und Schüler waren aus allen Teilen des Landes, das über etwas mehr als sieben Millionen Einwohner verfügt, nach Belgrad gereist. Auch zahlreiche Arbeiter und Rentner schlossen sich der Demonstration an. Und dies, obwohl die Regierung alles tat, um die Anreise nach Belgrad unmöglich zu machen. Die staatseigene Eisenbahn und die staatlichen Buslinien stellten Fahrten in die Hauptstadt wegen angeblicher Terrorwarnungen ein.
Doch diese Maßnahme löste nur noch mehr Solidarität aus. In sozialen Netzwerken bildeten sich Fahrgemeinschaften, Taxis und sogar private Busunternehmer fuhren die Teilnehmer kostenfrei nach Belgrad.
Die Demonstration war der bisherige Höhepunkt der seit Monaten anhaltenden Protestwelle gegen die Regierung und gegen Präsident Aleksandar Vučić. In allen größeren Städten des Balkanstaats sind vor allem Studenten immer wieder auf die Straße gegangen. Seit Monaten sind nahezu alle Universitäten des Landes besetzt, und auch das Personal hat sich mit den Studenten solidarisiert.
Die Protestwelle hat längst das gesamte Land erfasst. Das Centre for Research, Transparency and Accountability (CRTA) berichtete zuletzt von 410 Protestaktionen an 165 verschiedenen Orten innerhalb nur einer Woche. Aus einer Studie der CRTA geht hervor, dass 80 Prozent der Bevölkerung die Forderungen der Studierenden unterstützen und zwei Drittel sich in irgendeiner Form an den Protesten beteiligen.
Auslöser der Proteste war der Tod von 16 Menschen, darunter zwei Kindern, durch den Einsturz eines Bahnhofsvordaches in der nordserbischen Stadt Novi Sad im November letzten Jahres. Erst vergangene Woche ist das 16. Todesopfer, ein 19-jähriger Student, seinen schweren Verletzungen erlegen. Als Reaktion auf die Nachricht vom Tod des jungen Mannes blockierten Studenten und Schüler zwei zentrale Bus- und Straßenbahndepots, was zu erheblichen Störungen im öffentlichen Verkehr führte.
Dem Einsturz des Vordachs war ein Umbau des Bahnhofes vorausgegangen, das baufällige Vordach wurde allerdings nicht erneuert. Die Protestierenden machen die in der Regierungspartei und dem Staatsapparat grassierende Korruption für die Tragödie verantwortlich. Sie fordern, dass sämtliche Dokumente zum Unglück von Novi Sad veröffentlicht werden.
Darüber hinaus verlangen sie, dass die Angriffe auf Studenten und Professoren während der Proteste untersucht und die Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt werden. Außerdem sollen die Verfahren gegen Studenten, die sich an den friedlichen Protesten beteiligten, eingestellt und der Bildungshaushalt um 20 Prozent erhöht werden.
Die Proteste gehen allerdings weit über diese beschränkten Forderungen hinaus. Sie sind Ausdruck der breiten Opposition gegen den Machtmissbrauch und die Korruption der herrschenden Eliten und gegen die untragbaren sozialen Zustände für die Mehrheit der Bevölkerung. Während sie sich vorrangig gegen Präsident und Regierung sowie gegen deren rechtsnationalistische Serbische Fortschrittspartei (SNS) richten, waren bisher auch die sogenannten Oppositionsparteien kaum in der Lage, unter den Protestierenden Fuß zu fassen.
Dies, obwohl Vučić mit wachsender Brutalität gegen die Proteste vorgeht und die Bevölkerung durch das Schüren von giftigem Nationalismus und Rassismus, Konflikten mit Nachbarstaaten und die Unterdrückung von Minderheiten zu spalten versucht.
Vučić bringt SNS-Funktionäre, die nicht selten faschistischen Gruppen nahestehen, gegen die Studenten in Stellung, um sie einzuschüchtern. Während der Demonstration in Belgrad marschierte eine berüchtigte faschistische Einheit auf, die in den 1990er Jahren mit Exekutionen und Kriegsverbrechen in Verbindung stand. Hochrangige SNS-Mitglieder, wie Vladimir Đukanović, der bereits mehrfach durch seine faschistischen Ausfälle in Erscheinung trat, haben damit gedroht, bei weiteren Protesten in die Menge schießen zu lassen.
In Belgrad wurden zahlreiche Demonstranten verhaftet. Die Sicherheitskräfte setzten Pfefferspray und eine Schallkanone gegen die friedliche Massendemonstration ein. Offiziell dementierten die Behörden zwar den Einsatz einer Schallwaffe, doch Videoaufnahmen und Einschätzungen von Militäranalysten bestätigen ihn eindeutig.
Der Einsatz von Schallwaffen ist in Serbien wie in zahlreichen anderen Ländern verboten, da sie dauerhafte Schäden verursachen können. Neben Hörverlust und Tinnitus können sie zu Kopfschmerzen, Schwindel, Desorientierung und sogar zu Organversagen führen. Am Abend des Protestes fanden sich Dutzende von Menschen wegen starker Kopf- und Ohrenschmerzen in den Notaufnahmen der Kliniken ein.
Die EU steht hinter Vučić
In der Ukraine, Georgien und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist es proimperialistischen Kräften wiederholt gelungen, Proteste gegen Machtmissbrauch und Korruption von den sozialen Kämpfen der Arbeiterklasse zu spalten und als sogenannte „Farbrevolutionen“ ins Fahrwasser der Europäischen Union und der USA zu lenken. In Serbien ist dies bisher nicht der Fall, weil der reaktionäre Charakter der EU und der USA inzwischen derart offensichtlich ist, dass sie sich nicht mehr als „demokratische“ Alternativen zum autoritären Regime Serbiens darstellen können.
Die EU hat sich in Serbien offen hinter Vučić gestellt, den sie braucht, um den Einfluss Russlands und Chinas zurückzudrängen, Serbien in die EU zu integrieren und die riesigen Lithiumvorkommen des Landes auszubeuten. Vučić seinerseits ist entschlossen, den Weg in die EU zugehen, auch wenn er immer wieder die traditionell engen Beziehungen zwischen Serbien und Russland und die wirtschaftlichen Verbindungen zu China ausspielt, um seinen Marktwert zu steigern. China hat Milliarden in Serbien investiert und ist nach Deutschland dessen größter Handelspartner.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im Oktober, kurz vor Ausbruch der Massenproteste, Belgrad besucht, um dem „lieben Aleksandar“ für seine „Verwirklichung von Reformen“ zu danken, „insbesondere bei den Grundlagen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie“. „Sie haben gezeigt, dass ihren Worten Taten folgen,“ lobte sie Vučić.
Drei Monate vorher, im Juli 2024, war auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in Belgrad, um der Unterzeichnung eines „Memorandums über kritische Rohstoffe“ beizuwohnen, das der EU Zugriff auf die serbischen Lithiumvorkommen gewährt. Das Bergwerk Jadar, das vom anglo-australischen Bergbaukonzern Rio Tinto betrieben wird, kann 90 Prozent des gegenwärtigen europäischen Lithiumbedarfs decken.
Gegen den umweltschädlichen Abbau hatte es zuvor Massenproteste gegeben, die die serbische Regierung zwangen, ihn für zwei Jahre zu stoppen, bis er auf Druck der EU wieder aufgenommen wurde. An diesen Protesten hatten sich viele beteiligt, die in den heutigen Demonstrationen wieder eine führende Rolle spielen. Kein Wunder also, dass es wenig Enthusiasmus für die EU gibt. Umfragen zufolge unterstützen nur 40 Prozent der serbischen Bevölkerung einen EU-Beitritt.
„Wie so oft in der Welt hat sich die EU dafür entschieden, Geschäftsinteressen, die nicht unbedingt mit politischer Liberalisierung einhergehen, über Freiheit und Demokratie in Serbien zu stellen,“ kommentiert dies der Politikwissenschaftler Branislav Radeljic.
Auch bei der Abwehr von Flüchtlingen, die über die sogenannte Balkan-Route kommen, spielt Vučić für die EU eine zentrale Rolle.
Mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron steht Vučić ebenfalls gut im Geschäft. 2024 kaufte er anlässlich eines Belgrad-Besuchs Macrons zwölf Rafale-Kampfflugzeuge des französischen Herstellers Dassault im Wert von 2,7 Milliarden Euro. Die Summe ist für Serbien zwar unerschwinglich, aber die politischen Vorteile, die sich Vučić davon verspricht, waren ihm den Preis offensichtlich wert.
Auch die Administration – oder genauer die Familie – Donald Trumps verfolgt in Belgrad mit Vučićs tatkräftiger Unterstützung ihre Geschäftsinteressen. Am Montag dieser Woche protestierten in Belgrad Tausende gegen den Bau eines Luxusprojekts durch die US-Investitionsfirma Affinity Partners, die Trumps Schwiegersohn Jared Kushner gehört. Die Immobilie soll auf dem Grundstück des ehemaligen jugoslawischen Armeehauptquartiers entstehen, das genau vor 26 Jahren im Rahmen des Nato-Kriegs gegen Jugoslawien durch einen US-Luftwaffenangriff zerstört wurde. Die serbische Regierung hat das Grundstück im Herzen Belgrads für 99 Jahre an Kushners Firma geleast.
Es fehlt eine tragfähige Perspektive
Obwohl sich die serbische Protestbewegung bisher nicht von der EU oder der Nato kapern ließ, fehlt ihr eine tragfähige Perspektive. Die Grün-Linke-Front (ZLF), eine Partei, die aus der Bewegung gegen das Jadar-Bergwerk und anderen Umweltprotesten hervorgegangen ist, unterstützt zwar die Proteste, geht aber nicht über fromme Wünsche nach einer Reform des parlamentarischen Systems und einer Zusammenarbeit aller Oppositionsparteien hinaus.
„Die Grün-Linke Front ist der Ansicht, dass die einzige Lösung für einen Ausweg aus der Krise in der Bildung einer Übergangsregierung besteht, die mit einem zeitlich begrenzten Mandat ausgestattet wäre, um freie Wahlen und freie Medien zu gewährleisten und den Diebstahl öffentlicher Gelder durch große Infrastrukturprojekte dringend zu stoppen,“ sagte Radomir Lazović, Co-Vorsitzender der ZLF, der Heinrich-Böll-Stiftung.
Die Übergangsregierung müsse die Wählerlisten überarbeiten, um faire Wahlen zu garantieren, und Voraussetzungen für eine objektive Medienberichterstattung schaffen. Die ZLF habe Treffen aller Oppositionsparteien initiiert und werde darauf bestehen, dass außerparlamentarische Organisationen und die Zivilgesellschaft an der Harmonisierung dieses Vorschlags beteiligt werden, da er sonst von den Behörden manipuliert werde.
Das gleicht dem Versuch, einen Krebskranken durch die Verabreichung von Placebos zu heilen. Die krebsartige Wucherung von Korruption und diktatorischer Herrschaft, die auch die USA und die Europäische Union befallen hat, kann nicht mit homöopathischen Mitteln bekämpft werden. Sie ist das Ergebnis der Fäulnis der kapitalistischen Gesellschaft. Die Dominanz milliardenschwerer Oligarchen über das Wirtschaftsleben lässt sich ebenso wenig mit Demokratie vereinbaren, wie der globale Kampf um Rohstoffe, Absatzmärkte und Profit mit Frieden.
Der Kampf gegen Korruption, Ausbeutung, Diktatur und Umweltzerstörung ist eine Klassenfrage. Er erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse, die den gesamten gesellschaftlichen Reichtum produziert, gegen jene, die ihn plündern und ausbeuten. Er erfordert die Vergesellschaftung der großen Konzerne und die Enteignung der Oligarchen sowie die Überwindung der nationalen Grenzen, die die Arbeiterklasse spalten. Er erfordert den Aufbau einer Gesellschaft, in der die sozialen Bedürfnisse aller und nicht die Profitinteressen weniger im Mittelpunkt stehen.